Essen & Trinken:Neu im Revier

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Ein Anwalt, eine Buchhändlerin und 50 Wurstsorten: Wie ein Ehepaar aus Rheinland-Pfalz quasi nebenbei eine der besten Wildmetzgereien des Landes eröffnet hat.

Von Josef Wirnshofer

"Küchenschuss" ist eine dieser Jägervokabeln, die Klaus Nieding während des Gesprächs immer mal wieder einwirft. Wie dies überhaupt eine Geschichte ist, die viel mit der Jagd zu tun hat, doch der Reihe nach, zuerst der Küchenschuss also: Er trifft das Tier - sagen wir in diesem Fall: den Hirsch - drei Zentimeter hinter dem Schulterblatt. Das Geschoss öffnet den Brustkorb, erzeugt einen Unterdruck und lässt die Lunge kollabieren. Durch eine Aufprallenergie von etwa 3000 Joule tritt außerdem der Nervenschock ein. "Idealerweise reißt das Geschoss dann noch das Herz entzwei", sagt Klaus Nieding, "das ist ein Sekundentod".

Klingt brutal. Ist aber eine der schonendsten Arten, ein Tier zu töten. Denn, etwas samtiger ausgedrückt: Im einen Moment steht der Hirsch quicklebendig im Wald, im nächsten fällt er tot um. Nicht zuletzt deshalb gehört Wildfleisch zu den hochwertigsten Fleischsorten, die sich in der Küche verarbeiten lassen. Die Tiere empfinden - sofern sie ohne Vorahnung erlegt werden - keinen Stress bei der Tötung, was das Fleisch extrem zart werden lässt.

Wer Klaus und Petra Nieding in ihrem Betrieb in der pfälzischen Kleinstadt Bad Sobernheim besucht, findet sich schnell in Fachgesprächen übers Jagen und die Qualität von Fleisch wieder. Wen wundert's, schließlich sind beide Jäger. Und seit fünf Jahren betreiben sie die "Wildkammer", eine Metzgerei, die auf Wildfleisch spezialisiert ist. Doch wie kommt es, dass ausgerechnet ein Rechtsanwalt und eine Buchhändlerin eine der besten Wildmetzgereien des Landes eröffnen? Dass sie mit Preisen überhäuft werden für ihre inzwischen 50 Wurstsorten, darunter zart geräucherte Wildknacker, feinste Wildschwein-Coppa oder Pastete mit Pflaumen-Confit?

Begeisterter Jäger: Klaus Nieding. (Foto: Alex Kraus)

Für Antworten auf diese Fragen muss man weiter ausholen. Und mit der Jagd beginnen, denn damit hat alles angefangen. Etwa 1300 Hektar umfasst das Revier der Niedings. Eine Fläche, auf der pro Jahr zwischen 50 und 80 Wildschweine erlegt werden, 100 bis 120 Stück Rehwild und mehr als 50 Widder und Wildschafe. "Das können Sie nicht alles selbst essen", sagt Klaus Nieding. 2007 haben sie sich deshalb zuhause eine kleine Metzgerei eingerichtet. Haben ihr Wild zu Bratenstücken und Filets verarbeitet und an Freunde, Bekannte, Bewohner aus dem Ort verkauft. "Wenn die Leute sonntags unverhofft Besuch bekamen, klingelten sie bei uns und haben noch schnell nach einem Kilo Wildgulasch gefragt", erinnert sich Klaus Nieding.

Dann kam der 24. Dezember 2010. Um 18 Uhr hatte der letzte Kunde seinen Weihnachtsbraten abgeholt, um 21 Uhr saßen die Niedings endlich selbst am Essenstisch - nach mehreren stressreichen Wochen. Petra Nieding, 50, hatte meist bis spät abends in ihrer Hausmetzgerei gestanden, um die Fleischteile für das Weihnachtsgeschäft vorzubereiten. Also hat Klaus Nieding, 53, seiner Frau an jenem Heiligabend vorgeschlagen, die Sache zu professionalisieren und einen Metzgereibetrieb aufzubauen. Der Grund: "Dann hast du nicht nur geregelte Ladenöffnungszeiten, sondern auch geregelte Ladenschlusszeiten." Die Idee ließ sich freilich nicht zuhause realisieren. Also haben sie das Gebäude eines alten Stahlwarenlagers aus den Sechzigerjahren gekauft. Haben drei Monate lang renoviert und dort 2012 die Wildkammer eröffnet. Im Erdgeschoss der Verkaufsraum, im Keller eine moderne Fleischerproduktion.

Wenn die Niedings ein neues Rezept entwickeln, dann fragen sie erst einmal ihre Kunden

Ein Samstag im November. Petra Nieding steht in Jeans und schwarzer Arbeitsjacke hinter der Theke, ein paar Kunden noch, dann ist Schluss für heute. Für gute Wurst, sagt sie, ist vor allem die Fleischqualität entscheidend. Klingt naheliegend, bedeutet aber: Die alte Regel, dass in die Wurst alle Teile kommen, mit denen man in der Küche sonst nichts anfangen kann, gilt nicht mehr. "Das Fleisch muss 1a sein, da dürfen keine Reste drin sein, auch keine Sehnen oder Knorpel", sagt Petra Nieding.

Ebenso entscheidend: die Feinabstimmung der Gewürze. Dabei vertraut Petra Nieding auch mal dem Geschmack ihrer Kunden: "Wenn wir ein neues Produkt entwickeln, geben wir den Leuten oft eine Probierportion mit und fragen hinterher, was wir noch verbessern können." Zuletzt kommt es für sie auch darauf an, zu experimentieren und Rezepturen zu finden, die einem nicht in jeder zweiten Metzgerei begegnen: "Wenn Sie sich als Fleischer abheben wollen, müssen Sie auch mal etwas außergewöhnlichere Zutaten einsetzen."

Petra Nieding ließ sich mittlerweile zur Metzgermeisterin ausbilden. (Foto: Timo Volz/Wildkammer)

Ein Blick in ihre Theke zeigt, was Petra Nieding damit meint. Da wäre etwa die feine Wildleberwurst mit dunkler Valrhona-Schokolade. Oder die luftgetrocknete Hildegardiswurst aus Rehfleisch, die mit kräuterigen Noten von Galgant, Kardamom und Ysop besticht - Küchenkräutern, die Hildegard von Bingen in ihren heilkundlichen Schriften erwähnt. Die Wild Canadian Cheese Smokeys wiederum warten mit einem sensorischen Twist auf: sechs Monate lang gereiftem Cheddar-Käse, der den Bratwürsten aus Rothirsch und Wildschwein einen satten Schmelz verleiht.

Wenn Petra Nieding vom Wursten spricht und davon, wie sie ihre Schinken herstellt, könnte man meinen, dass einige Jahrzehnte Metzgererfahrung aus ihr sprechen. Ist aber nicht so, im Gegenteil: Nieding ist ausgebildete Buchhändlerin und hat erst in ihrer Hausmetzgerei begonnen, sich intensiver mit der Verarbeitung von Wild zu beschäftigen. Als sie und ihr Mann die Wildkammer eröffneten, stellten sie deshalb Fleischermeister ein - ohne diesen Titel durften sie selbst keine Wurst herstellen und gewerblich vertreiben. "Ich habe von den Kollegen manchmal Sätze zu hören bekommen wie: ,Du bist nicht vom Fach.' Im eigenen Betrieb - das geht gar nicht", sagt Petra Nieding. Also hat sie ihre Meisterprüfung gemacht. Drei Monate Intensivkurs in Frankfurt, zusammen mit 51 gestandenen Fleischern. Vor wenigen Wochen hat sie auch ihre Fortbildung zur Fleischsommelière abgeschlossen.

Wenn in der Wildkammer neue Wurstrezepte entstehen, übernimmt Klaus Nieding oft den Part des Ideengebers. Er ist Jurist, ein renommierter Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, eine Fleischerausbildung hat er nicht. Aber er kommt viel rum, geht gerne essen und stößt dort auf Anregungen. "Ich bringe mich ein, indem ich sage: Probiert doch mal das oder das." Letztens zum Beispiel hatte er die Idee für eine winterliche Leberwurst mit Apfel und Zimt. Sie soll bald ins Sortiment aufgenommen werden.

Ein Grill darf heute Tausende Euro, die Bratwurst dafür aber nur 3,20 Euro das Kilo kosten

Eigentlich ist Wildfleisch ein zeitgemäßes Lebensmittel. Es enthält wenig Fett, wenig Cholesterin und ist im wörtlichen Sinn Biofleisch, wenn die Tiere im Wald geschossen werden. Trotzdem: Das Ehepaar Nieding merkt nach wie vor, dass beim Thema Wild allerlei Vorurteile durch die Köpfe schwirren. Eines davon: Wild schmecke streng. "Das kommt aus einer Zeit, als die Jäger noch keine ausreichenden Kühlmöglichkeiten hatten", sagt Petra Nieding, "dieser typische Wild-Hautgout von früher war nichts anderes als Verwesung". Damals hat man das Fleisch in Rotwein und Buttermilch eingelegt, um den Geschmack zu übertünchen. Heute kein Thema mehr. Ein weiterer Gedanke, der sich bei vielen hält: Die Zubereitung von Wildfleisch sei an Festtage gebunden. "Das liegt wohl daran, dass bestimmte Wildarten lange dem Hochadel vorbehalten waren", sagt Klaus Nieding, "es war also etwas Besonderes."

Die Niedings bieten in ihrer Wildfleisch-Metzgerei "Wildkammer" inzwischen 50 Wurstsorten an, darunter zart geräucherte Wildknacker, feinste Wildschwein-Coppa oder Pastete mit Pflaumen-Confit. (Foto: Timo Volz/Wildkammer)

Und dann ist da noch die Sache mit dem Preis. Das Ansitzen im Wald ist wesentlich zeitaufwändiger, als Zuchttiere im Schlachthaus zu töten. Wildfleisch ist dementsprechend teurer. Klaus Nieding muss seinen Kunden immer mal wieder die Preise erklären - und ist von den Gesprächen oft irritiert: "Es kann doch nicht sein, dass Leute sich einen Grill für mehrere Tausend Euro auf die Terrasse stellen, die Würstchen dann aber nur 32 Cent pro 100 Gramm kosten sollen."

Unter anderem wegen der veralteten Vorstellungen von Wild haben sich die Niedings zwei gelbe Verkaufswagen zugelegt. Ihre "Forst-Food-Trucks", wie sie sie nennen. Damit fahren sie auf Veranstaltungen und Märkte, grillen Wild-Burger und Bratwürste und zeigen, dass man das Fleisch zu jeder Jahreszeit essen kann. Vor allem auch, dass es nicht muffig schmeckt. "Wenn die Leute nach Senf fragen, sage ich oft, sie sollen es erst mal ohne probieren", sagt Klaus Nieding, "Senf braucht man nur bei einer schlechten Wurst".

Samstagabend, Petra Nieding steht vor ihrem Zulieferraum und empfängt vier Jäger. Sie haben zwei Wildschweine und drei Rehe erlegt. Als einer der Jäger das Fell der Wildschweine mit einem Wasserschlauch abspritzen will, geht sie dazwischen: "Das wird sowieso abgezogen, das braucht ihr nicht noch mal abspritzen." Es ging dem Jäger wohl auch nicht um das Fell. Sondern um das Wasser, das in den Haaren hängen bleibt und 500 Gramm extra auf die Waage bringt. "Da wird alles versucht", sagt Nieding und schmunzelt.

Dass mit einem klar festgelegten Ladenschluss die Arbeitszeiten wieder geregelter werden, wie Klaus Nieding das an Weihnachten 2010 gedacht hat, war natürlich ein Irrtum. An den Abenden und den Sonntagen bleibt genug zu tun. Anlieferungen, Buchhaltung. Inzwischen bringen Jäger aus rund 40 Revieren ihr Wild zu ihnen. Wie oft sie selbst noch auf die Jagd gehen? "Viel zu wenig", sagt Klaus Nieding, "in diesem Jahr habe ich nicht ein Stück Wild geschossen". Daran wird sich so schnell nicht viel ändern. Im Moment planen er und seine Frau, eine zweite Filiale zu eröffnen.

© SZ vom 16.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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