Das Aroma erinnere an grünes Gras und frische Nüsse, mit Anklängen von Heu und Ziegenmilch, so jubelte die Jury. Aus ihrer blumigen Beschreibung würde man mindestens auf den Geschmack eines so kräftigen wie erlesenen Käses schließen, doch Anlass für die Begeisterung war nur ein vermeintliches Alltagsprodukt: Hühnereier.
Genauer gesagt ging es um Eier aus dem Sortiment des toskanischen Bauern Paolo Parisi, der kürzlich bei der Eiverkostung des renommierten italienischen Gourmet-Führers " Gambero Rosso" Bestnoten einstrich. Das Hühnerei erlebe gerade eine Art Quantensprung in puncto Qualität und Geschmack, befanden die Tester. Und Parisi gilt als Pionier und Star der Branche. Seine Hühner genießen eine besondere Haltung und bekommen als Futter einen akribisch gemischten Getreidebrei mit Ziegenmilch. Die Eier kosten bis zu vier Euro pro Stück und sind damit wohl die teuersten der Welt. Wer das für einen Witz hält, sollte wissen: Parisi hat höchstens ein Problem damit, die Nachfrage zu bedienen, die Spitzengastronomie reißt sich um die Eier seiner Hühner. Er mag das obere Ende des Angebots definieren, ein Einzelfall ist Parisi nicht.
Die Berliner Genuss-Szene zum Beispiel schwärmt derzeit von den aromatischen "Weide-Eiern" der Hennen von Johannes Habel. Der in Falkenhagen in Brandenburg ansässige Biobauer setzt auf sogenannte Zweinutzungshühner. Auf Hennen also, die zuerst legen und später trotzdem geschlachtet werden, eine Kombination, die in der Massentierhaltung nicht vorstellbar wäre. Tierschutz ist für Habel nicht nur Pflichtprogramm, sondern eine Säule seines Geschäftsmodells. Seine Hennen laufen frei herum und bewohnen einen Mobilstall, der alle 14 Tage versetzt wird; der Bauer schwört außerdem auf saisonales, hofeigenes Futter, gerade bekommen seine Hennen und Hähne neben einer speziellen Getreidemischung gedämpfte Kartoffeln mit Sahne. "Auch das Geflügel braucht eine warme Mahlzeit", erklärt er, das Ergebnis könne man schmecken. Die Eier kosten in der Direktvermarktung 70 Cent, immerhin noch etwa doppelt so viel wie ein Ei vom Bauernmarkt. Zu Habels Kunden gehören bekannte Köche wie Kolja Kleeberg oder Sarah Hallmann, aber auch Händler der Markthalle Neun in Kreuzberg.
Nun klingt es erst einmal seltsam, wenn vielerorts in der Gastronomie plötzlich von der Renaissance des Hühnereis die Rede ist, schließlich geht es um ein Grundnahrungsmittel, das nie weg war und das man seit Jahrhunderten auf allen Speiseplänen findet. Richtig ist allerdings, dass - ähnlich wie beim Fleisch - die Massen- und Industrieware immer mehr ins Gerede kommt. Und dass Züchter und Köche neuerdings stark daran arbeiten, Aroma und Zubereitung von Eiern zu optimieren.
Auf Instagram wirken Eier surreal schön. Besser lässt sich kein Lebensmittel inszenieren
Dass ein Ei optimal schmeckt, sei für sie erst einmal "keine Frage der Zubereitung, sondern eine der Hühner-Fütterung", bestätigt ausgerechnet Kathrin Fritz, die als Kochbuchautorin eigentlich eher für die Rezepte zuständig ist. Fritz hat zusammen mit der Fotografin Martina Meier gerade "Von Huhn und Ei" (AT-Verlag) vorgelegt, eines von gleich drei neuen Kochbüchern zum Thema, die belegen, dass die Neuvermessung des Hühnereis nicht nur im Restaurant, sondern auch zu Hause stattfindet. Fritz' und Meiers Buch ist einerseits eine Rezeptsammlung, die vermittelt, dass das Huhn in der Küche sehr viel mehr zu bieten hat als Rührei und Chicken Wings. Darüber hinaus geht es um eine Liebeserklärung an alte, fast vergessene Rassen wie "Antwerpener Bartzwerg" (hat "ein keckes Wesen") oder die "Appenzeller Spitzhaube ("klettert gut, schläft gern auf Bäumen").
Doch wie kommt es, dass man dem Ei neuerdings so viel Aufmerksamkeit schenkt? Kathrin Fritz glaubt, dass "das auch mit der Wiederentdeckung des Hühnereis als Nährstoffquelle zu tun hat". Vorbei die Zeit, als es nur als schädliche Cholesterinbombe galt. Eier sind gesund - diese Einsicht kommt vor allem einer jungen Esskultur gerade recht, die mit weniger oder gar keinem Fleisch auskommen möchte. Nun befriedigen Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchte allerdings nicht jedermanns Energiebedarf, und das Ei füllt diese Lücke bravourös. Ein schneller und fast überall verfügbarer Sattmacher, der sich zudem gut als "Zentrum" von Gerichten eignet.
Allerdings sind die Zeiten der schnöden Zubereitung vorbei. Jetzt wird pochiert, gebeizt, eingelegt und niedrig gegart. Kathrin Fritz und Martina Meier haben für ihr Buch einige aktuell populäre Rezepte neben vielen Klassikern zusammengefasst. Zum Beispiel das nordafrikanische Gericht Shakshuka mit in Tomatensauce pochierten Eiern. Oder Nudeln mit Pistazien, Basilikum, Kapern und Onsen-Eiern, die so benannt sind, weil sie in Japan in heißen Quellen (Onsen) bei 63,5 Grad gegart werden.
Dieses Gericht trifft - ähnlich wie pochierte "Eggs Benedict" oder das nur drei Minuten gegarte "Œuf à la coque" - gerade den Nerv. Denn das Ei - und vor allem sein Dotter - soll weich sein, just gestockt, am besten fließen. Sein Aroma und seine Textur sind so nämlich besonders intensiv: süß, fast fruchtig mit einer herben Note; es schmeckt vollmundig, eben dottrig. Um dieses Aroma voll zum Ausdruck zu bringen, benötigt es neben Frische eine sorgfältige und punktgenaue Zubereitung. Und besonders wichtig wird das natürlich, wenn futterbedingte Aromen wie Ziegenmilch oder frische Nüsse erkennbar sein sollen.
Kathrin Fritz betont, dass "die Zubereitung mit den modernen Techniken einfacher geworden ist. Mit der Sous-vide-Methode kann man das Eigelb oder Eiweiß auf jeden gewünschten Garpunkt bringen". Das gilt natürlich besonders für die Gastronomie. Zu Hause gelingt es nicht immer ganz so gefällig. Doch bei Youtube gibt es längst eine ganz Bibliothek an Tutorials, die zeigen, wie Eier perfekt gegart werden. Besonders das Pochieren steht im Fokus. Der britische Starkoch Heston Blumenthal zum Beispiel erklärt in seinem Video "How To Cook Like Heston (S01E02 Eggs)", wie sich dabei die größte Hürde vermeiden lässt, die der sauberen kompakten Form im Weg steht: das unschöne Zerfransen des Eiklars. Dafür schlägt man das Ei vorab in eine Schüssel, lässt es dann auf eine Schaumkelle gleiten, wartet, bis das äußere dünnflüssige Eiklar abgetropft ist und gibt das Ei dann erst in das heiße Wasser. Mit frischen Eiern lässt sich das Zerfransen ganz vermeiden, denn je frischer Eiklar ist, desto dickflüssiger ist es auch.
Zum neuen Erfolg des Hühnereis trägt bei, dass es hübsch anzusehen ist, auf Social Media spielen schließlich nur Foodtrends eine Rolle, die sich besonders ästhetisch in Szene setzen lassen. Das Ei ist da in Farbe und Form ideal, sein glänzend gelbes Dotter, gerahmt vom klaren Weiss, adelt jedes Drumherum auf dem Teller. In trendbewussten Milieus wurde das Ei so zum Sinnbild eines modernen Lifestyles. Als kürzlich das US-Food-Magazin Bon Appetit seinen Online-Shop eröffnete, war das Egg-Shirt in kürzester Zeit vergriffen. Auch der Messenger-Dienst Telegram präsentierte seinen Usern im vergangenen Sommer das Sticker-Set "Egg Yolk" mit zwinkernden Eigelb-Piktogrammen. Natürlich spielte das Oval schon immer eine besondere Rolle. Es diente Mythologien als Projektionsfläche, war formgebend für Kunst, Handwerk und Architektur. Nun ist es in der Küche nicht nur kulinarisch, sondern auch ästhetisch stilprägend.
Hinzu kommt, dass sich hippe Städter neuerdings für die Hühnerhaltung interessieren. Ein Innenhof oder ein schmaler Streifen Grün reicht manchem, um selbst in Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-Altona vom nachhaltigen Landleben zu träumen. Hühner gelten als unkompliziert. Und neue mobile Ställe, die buchstäblich im Handumdrehen aufgebaut sind, machen die Haltung fast überall möglich.
Die Berliner Gastronomin Cynthia Barcomi macht es vor. Seit dem Sommer hält sie in ihrem Privatgarten drei Hennen und einen Hahn. Letzterer kräht bisher morgens nur kurz, die Nachbarn stört es nicht. Die erste Henne hat gerade angefangen, Eier zu legen. "Ihre Eier sind klein und fein. Wunderschön! Sie sind frisch und schmecken köstlich - kein Vergleich zu dem, was man oft im Supermarkt bekommt."