Essen und Trinken:Kulinarische Meditation

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Schöne Philosophie: Die von Jeong Kwan (hier in ihrer Lehrküche in Südkorea) zubereiteten Speisen sollen nicht nur den Geist befreien, sie sehen auch gut aus. (Foto: Jun Michael Park/laif)

Die Südkoreanerin Jeong Kwan hat die buddhistische Tempelküche weltbekannt gemacht, Starköche berufen sich auf die Köchin. Ein Essen mit ihr ist nicht unbedingt magenfüllend, aber ein spiritueller Akt.

Von Titus Arnu, Zürich

Man könnte es schlicht "Tischdecken" nennen, aber für Jeong Kwan ist das Platzieren des Geschirrs eine Achtsamkeitsübung. Mit ruhigen Bewegungen ihrer winzigen Hände wickelt die koreanische Zen-Nonne vier ineinander verschachtelte Holzschälchen aus einem Stofftuch und stellt sie behutsam auf den Tisch vor sich. Jede Schale hat millimetergenau an einem bestimmten Platz zu stehen, Stäbchen und Holzlöffel liegen parallel zueinander auf einer ordentlich gefalteten Serviette. Als alles bereit ist, auch an den Plätzen der rund 30 Gäste im Restaurant des Museum Rietberg in Zürich, schlägt Kwan drei Mal einen kleinen Gong - und das Ritual beginnt.

Sieben Helfer, die eigens für diesen zeremoniellen Akt aus Südkorea in die Schweiz gereist sind, füllen jeweils ein Schälchen mit Gemüsesuppe, ein zweites mit Reis und Hirse. Erst als alle Gäste genug von den Grundnahrungsmitteln haben, kommen die anderen Gerichte auf den Tisch: Kimchi (fermentierter scharfer Kohl), Jang-a-chi (eingelegter trockener Rettich), getrocknete scharf-süße Kaki, in Gerstensirup gegarte Shiitake-Pilze, gedämpfter Tofu mit wildem Pfeffer, süß-sauer eingelegte Lotuswurzeln und Gondrae-Gemüse, das an scharf gewürzten Spinat erinnert. Bevor die Gäste ihre Stäbchen zücken, schließt Jeong Kwan die Augen, dreht die Handflächen nach oben und sagt: "Woher kommt dieses Essen? Mein Handeln war nicht gut genug, um es zu verdienen. Ich werde all meine Begierden besänftigen und diese Speisen als Medizin betrachten, die mich gesund hält. Ich strebe nach der Wahrheit und nehme mit Dankbarkeit dieses Essen an." Ein "Guten Appetit" oder ein "Enjoy!" würde sicher schneller gehen, wäre aber nicht halb so wertschätzend.

Macht satt und glücklich
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Barugongyang, eine rituelle buddhistische Mahlzeit, ist viel mehr als ein exotisches Menü. Es ist eher eine kulinarische Meditation, bei der das Essen als Mittel zur Selbsterkenntnis dienen soll. Und es ist sicher kein magenfüllendes Luxusmahl. "Bitte denken Sie an die drei Grundprinzipien", sagt die 1,50 Meter kleine Frau, wegen der alle gekommen sind: "Wir wollen uns nicht komplett satt essen, wir wollen mit Freude essen, wir wollen nichts übrig lassen." Das funktioniert dann recht gut, denn es ist wirklich nicht zu viel in den Schälchen, die Gefahr der Völlerei besteht kaum. Alle Anwesenden freuen sich dennoch, an einer so exklusiven Verköstigung teilnehmen zu dürfen und klauben andächtig auch noch das winzigste Reiskorn aus den Schüsseln.

Jeong Kwan, geboren 1956, wird als Visionärin gefeiert, seit die New York Times ihre Kochkunst als "Offenbarung" bezeichnete und Netflix ihr eine Folge der populären Reihe "Chef's Table" widmete. Seit Starköche versichern, von ihrer Spiritualität wenn nicht gleich beeinflusst, dann mindestens beeindruckt zu sein. Der New Yorker Drei-Sterne-Koch Éric Ripert, praktizierender Buddhist, hatte Kwan auf einer kulinarischen Entdeckungsreise in Südkorea kennengelernt und zu einer Koch-Session in sein Restaurant "Le Bernardin" eingeladen. Die New Yorker Foodie-Szene schnappte fast über vor Begeisterung. Die koreanische Tempelküche ist zwar schon 1700 Jahre alt, aber ihre Grundprinzipien sind gerade wieder im Trend - es geht um Modethemen wie Achtsamkeit, einzig mit menschlicher Zuwendung behandelte Zutaten, mikrosaisonale Küche, Fermentation, Nachhaltigkeit und Veganismus. Die chinesische Küche verdankt der buddhistischen Tradition die weltweit größte Vielfalt an fleischlosen Rezepten - ein Schatz, der gerade wiederentdeckt wird. Und in deutschen Großstädten eröffnen Sushi-Lokale, die sich auf die buddhistische Tempelküche berufen.

Ein Teil des Hypes um Kwan entsteht wohl auch dadurch, dass die Koreanerin kein eigenes Restaurant hat, sondern normalerweise nur für die Nonnen und Mönche im Baegyangsa-Tempel kocht, 270 Kilometer südlich der Hauptstadt Seoul. Wer ihre sehr speziellen Speisen probieren will, muss dorthin pilgern - oder zu einem der seltenen Events in New York, London oder Tokio eingeladen sein, bei denen Jeong Kwan ihre Kochkunst und ihre Spiritualität mit wenigen Auserwählten teilt. Das koreanische Fernsehen sei ihr extra von Seoul nach Zürich nachgereist, weil Kwan so selten Interviews gebe, erklärt die zuständige PR-Dame mit sichtlichem Stolz.

Ginsengwurzel in Ausbackteig, kandierter Ingwer und gepuffter Reis. (Foto: Titus Arnu)

Der Tempelküchen-Abend in Zürich ist Teil einer großen Buddhismus-Ausstellung mit dem Titel "Nächster Halt Nirvana". Dazu passt Jeong Kwans Küchen-Philosophie in mehrfacher Hinsicht. "Kochen ist für mich Meditation, Teil des Weges zur Erleuchtung", sagt Kwan beim Interview, ein etwas abstrakt klingendes Mantra, das sie nicht zuletzt durch ihr Menü eindrucksvoll erklären wird. Das Gespräch findet zwei Tage vor dem Tempelessen statt. Denn am Tag des Zeremoniells will sie sich ganz auf das Kochen konzentrieren. Ihre Augen sprühen vor Lebenslust und Intelligenz, die Energie, die von ihr auszugehen scheint, ist tatsächlich beachtlich. Sie hört ihrem Gegenüber aufmerksam zu, wartet auf die Übersetzung der Dolmetscherin, denkt lange nach und antwortet dann bedächtig und ausführlich auf die Fragen. Das große internationale Interesse an ihrer Kochkunst freue sie, aber sie könne es sich nur zum Teil erklären, sagt sie bescheiden: "Ich bin ja keine Spitzenköchin, ich bin nur eine einfache Nonne."

Mit 17 Jahren verließ Jeong Kwan heimlich ihre Familie, um ins Kloster zu gehen. Als Novizin wurde sie zur Küchenarbeit eingeteilt - und blieb dort, weil sie ein Händchen für die Zubereitung der buddhistischen Speisen und den Klostergarten hatte. Kwan verwendet nur Zutaten, die rund um den Baegyangsa-Tempel wachsen. Das Aufziehen und Ernten der Pflanzen ist für sie ein Teil der spirituellen Handlung, die mit dem Säen beginnt und der Verdauung endet. "Bevor ich eine Gurke schäle und sie verzehre, ist sie schon ein Teil von mir, weil ich ihr meine Energie gegeben habe, indem ich sie wochen- und monatelang großgezogen habe", sagt Jeong Kwan, "ich bin eins mit ihr und weiß deshalb, wie sich der Geschmack der Gurke optimal entfaltet." So präzise und konkret ihre Kochkunst wirkt, so universell klingt ihre Herangehensweise: "Ohne Wind, Regen und Sonne gibt es keine Pflanzen und kein Leben, also meditiere ich beim Kochen auch übers Wetter."

Die Zen-Küche ist auf der einen Seite praxisnah und einfach - und zugleich sehr anspruchsvoll, weil jedes Reiskorn mit Bedeutung aufgeladen ist. Die Grundprinzipien des Tempelessens folgen den Werten des Buddhismus und sollen gleichzeitig für eine ausgewogene, gesunde Ernährung sorgen. Um Leid zu vermeiden und kein negatives Karma zu sammeln, wird auf Fleisch und andere tierische Produkte völlig verzichtet. Knoblauch, Frühlingszwiebeln, Schnitt- und Stangenlauch werden gemieden, weil die entsprechenden körperlichen Auswirkungen bei der Meditation störend wirken können. "Essen ist für mich ein Bindeglied zwischen Körper und Geist", sagt Jeong Kwan und weist darauf hin, dass diese begriffliche Trennung ein Konstrukt der westlichen Welt sei. In der Philosophie des Zen-Buddhismus sind Körper und Geist, Handeln und Denken untrennbar miteinander verbunden, beides sollte in Balance sein und wird als gleich wichtig angesehen.

Frittierte Lotuswurzel, gebackene Kartoffelscheiben und knusprige Algen. (Foto: Titus Arnu)

Koreanisches Tempelessen und koreanische Landesküche sind miteinander verwandt, aber es gibt große Unterschiede. Fleisch und Fisch gibt es in den Klöstern nicht, aber Kimchi in allen möglichen Variationen. Um über die langen Winter zu kommen, legen Mönche und Nonnen alle möglichen Gemüsearten und Pilze ein, sie lassen Bohnen, Soja und Kohl fermentieren und verwenden die daraus entstandenen Pasten zum Konservieren und Würzen von Nahrungsmitteln. Als Geschmacksverstärker werden Seetang, wilde Kräuter, Bohnenpulver und getrocknete Pilze verwendet. Ähnlich wie in der ayurvedischen Küche gilt Nahrung in der Tempelküche als Medizin, man beugt Krankheiten mit der Zugabe von Heilpflanzen vor und stimmt die Ernährung auf den jeweiligen Menschentyp und dessen Probleme ab.

Normalerweise besteht ein Tempelessen aus höchstens vier Gerichten

Jeong Kwans Gerichte sehen aus wie kleine, filigrane Kunstwerke und schmecken so vorzüglich, dass man am liebsten immer weiter probieren würde, aber das entspräche natürlich nicht den Prinzipien des Zen-Buddhismus. Man darf seine Mahlzeit genießen, während man sie isst, aber man sollte keine Begierde verspüren, sich erneut zu bedienen, wenn man schon satt ist. Normalerweise besteht ein Tempelessen aus höchstens vier Gerichten, in Zürich serviert Kwan immerhin sieben Kostproben. Am Schluss putzt jeder Gast seine Holzschalen mit einem Stückchen Kimchi und Wasser aus, auch die kleinsten Reste werden gegessen und getrunken. Nichts soll verschwendet werden. Später werden noch einige süße und salzige Häppchen serviert - gepuffter Reis, frittierte Ginsengwurzel, frittierte Algen, Kartoffelchips und kandierter Ingwer. Dazu gibt es "Nirwana-Lotusblütentee", den die Kellnerinnen in winzige Schälchen gießen.

Am Ende hocken die Gäste 20 Minuten lang still in einem Ausstellungsraum des Museums und atmen dabei tief ein und aus. "Stellen Sie sich bei jedem Atemzug vor, was Sie vorher gegessen haben", sagt Jeong Kwan in die Stille hinein. Die wunderbar würzigen Kaki kommen einem in den Sinn, die erdigen Shiitake-Pilze, die holzige Textur der säuerlichen Lotuswurzeln, der fünf Jahre lang getrocknete Bergpfeffer - und was war das noch mal in der dritten Schale von rechts? Die Übung ist gar nicht so leicht, vor allem, wenn einen die eigenen Verdauungsgeräusche von der kulinarischen Kontemplation ablenken. Aber wenn man es richtig verstanden hat, ist leichtes Magengrummeln auf dem langen Weg zum Nirwana ganz normal.

© SZ vom 09.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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