Vegan, Paleo, Goji-Beeren, Chia-Samen, laktose- und glutenfrei. Es gibt so viele Ernährungstrends, dass man schnell den Überblick verliert, welches Kochbuch gerade in der Küche stehen sollte. Gemeinsam haben sie alle, dass sie uns schlank und gesund machen wollen. Ob und wie sie das tatsächlich tun, kontrollieren immer mehr Menschen per App, sagt Ernährungssoziologe Daniel Kofahl, der unter anderem an der Universität Trier forscht und das Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur leitet. Wie sich unsere Ernährungskultur dadurch verändert, erklärt er im Gespräch.
SZ: Warum sind Essenstrends überhaupt so ein großes Thema?
Daniel Kofahl: Es ist der ewige Kampf zwischen Genuss und Gesundheit. Einerseits gilt in unserer Gesellschaft ein Schlankheitsimperativ. Andererseits können wir im Überfluss leben: Unsere Ernährung ist nicht gerade darauf ausgelegt, schlank zu halten. Es ist geradezu paradox, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der immer mehr Leute wohlbeleibt sind, das aber stigmatisiert anstatt kultiviert wird. Dieser Konflikt führt dazu, dass wir uns intensiv mit dem, was wir essen, auseinandersetzen. Die zahlreichen Verlockungen, die unser Essen bietet, machen das Ganze noch komplizierter. Immer mehr Leute benutzen inzwischen Apps, die als Fremdkontrolle auf dem Weg zur Selbstoptimierung helfen sollen.
Welche Funktionen erfüllen Diät-Apps beim Schlank- und Gesundwerden?
Sie verschaffen einen Überblick, indem sie Ernährung in Zahlen verwandeln: Kalorien, Kohlehydrate, Fette. Die Richtwerte werden von der Ernährungsmedizin vorgegeben und können zur groben Orientierung dienen. So kann jeder selbst herausfinden, was ihm guttut. Das Problem ist, dass andere Variablen in den Hintergrund geraten: Genuss, Tradition und Ethik, soziales Zusammensein - all das fällt weg und wird ersetzt durch Kontrollmechanismen, um sich den Zwängen von Schlankheit und Gesundheit besser fügen zu können.
Warum machen wir das mit?
Es gibt Ansichten, nach denen Wohlbeleibtheit mit Krankheit assoziiert wird. Ich sehe das sehr kritisch, denn ganz so einfach ist es nicht. Menschen mit leichtem Übergewicht sind oft gesünder als Leute , die in einen krankhaften Mager- oder Sportwahn verfallen sind - das wird nur nicht thematisiert. Außerdem ist die Annahme verbreitet, dass jemand, der genussvoll isst, auch in anderen Situationen nicht besonders diszipliniert ist. Das ist falsch, macht es aber leichter, solche Menschen einzuordnen. Und wir suchen ja immer nach Kategorien, um schnelle Schlüsse zu ziehen.
Welche Schlüsse ziehen wir noch daraus, was der andere isst?
Was ich esse, beeinflusst immer, was mein Gegenüber von mir denkt. Es gibt zum Beispiel "weibliche" und "männliche" Gerichte. Diesen Vorstellungen versuchen wir zu entsprechen, und es kommt uns komisch vor, wenn andere das nicht tun. Ein männliches Gericht etwa muss für viele aufregend sein: mit Fleisch, einer besonders exotischen Zutat oder einem tollen Messer zubereitet werden. Ein weibliches Gericht sollte leicht, frisch und dabei am besten noch bunt sein. Der Klassiker: Wenn Sie als heterosexuelles Paar in ein Restaurant gehen und einen Salat mit Wein und eine Schweinshaxe mit Bier bestellen, wird der Kellner das automatisch zuordnen - wie, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Ein anderes Beispiel aus der Fernsehserie "Scrubs": Der Hauptdarsteller, ein junger Arzt namens J.D., trinkt gerne Apple-Martini. Das soll vermitteln, dass er kein richtig maskuliner Mann ist - im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten: Der chauvinistische Dr. Cox trinkt Whisky, das bittere, einsame Getränk für harte Kerle.
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Im Trend liegt, was als gesund gilt. Wir haben bei ein paar Mode-Produkten mal nachgeschmeckt
Geben wir dem Essen womöglich einen zu hohen Stellenwert?
Die Frage stellt sich natürlich, wenn man quasi wöchentlich von neuen Essenstrends hört: Vegan, Paleo, Superfoods. Ich finde aber nicht, dass man sich weniger damit auseinandersetzen sollte. Essen ist etwas, das wir jeden Tag tun, mehrmals. Es ist die Basis unserer Kultur. Darüber hinaus hat die Nahrungsmittelproduktion große wirtschaftliche Bedeutung. Ich finde das Nachdenken und Debattieren übers Essen sehr fruchtbar, solange es fair bleibt. Es ist eine an sich basale Tätigkeit, die wir in allen Kulturen als ausgefeiltes Phänomen beobachten können. Auch in alten, einfachen oder tribalen Zivilisationen wird über das Essen geredet, die Kategorien sind nur andere. Da geht es dann eben um Moral, Mythen und Religion. In den Industrieländern sind die Fragestellungen und Probleme zwar andere, die müssen aber genauso diskutiert werden. So spielen auch bei uns religiöse Faktoren eine immer größere Rolle, zum Beispiel in der Debatte um den Konsum von Schweinefleisch in öffentlichen Einrichtungen, wo man Rücksicht auf den muslimischen Anteil der Bevölkerung nehmen will.
Aber geht es nicht gerade bei uns auch um Moral?
Klar. Beim Essen und Trinken geben wir einerseits Auskunft über unseren ethischen Standpunkt. Andererseits beurteilen wir Menschen und verteilen Achtung und Missachtung. Sehr billiges Essen wird in vielen Milieus sozial sanktioniert, das Hühnchen vom Discounter etwa. Seine Konsumenten stehen im Verdacht, das eigene Wohl über das anderer zu stellen: der Tiere oder derer, die es unter widrigen Umständen produzieren müssen - und natürlich der Umwelt. Der Bildungsbürger mag auch kein ornamentales Essen: Der üppige Eisbecher mit vielen Kugeln, Soße, Likör, Streuseln und einem Fähnchen, das im Wind flattert, entspricht nicht mehr seinen Wertvorstellungen. Das ist alles zu viel und außerdem zu ungesund.
Werden wir durch bewusstes Essen und Apps wirklich gesünder?
Das bleibt abzuwarten. Zum einen gibt es Leute, die es schaffen - auch mithilfe technischer Kontrolle - gesünder zu werden. Für andere wird das Zählen zum Zwang und damit ungesund. Sie essen zu wenig, ohne Genuss und entwickeln obsessive Techniken. Es gibt Diät-App-Nutzer, die jedes Popcorn wiegen, um keine falschen Zahlen einzugeben. Sobald ich mein Körpergefühl verliere und mehr auf den Apparat höre als auf mich selbst, wird es pathologisch.
Gefühlt jeder Zweite bestellt seinen Latte nur noch mit Sojamilch und die andere Hälfte meidet Weizenprodukte. Haben wir alle Unverträglichkeiten?
Es gibt einen bestimmten Anteil an Menschen, die Unverträglichkeiten haben. Für die ist es natürlich toll, dass Produkte angeboten werden, die es leichter machen, damit umzugehen. Es konsumieren aber immer mehr Menschen diese Produkte, obwohl sie nicht müssten. Die Leute merken, dass ihnen unwohl ist und suchen nach einer Lösung. Ihre Ernährung können sie - im Gegensatz zu anderen Bereichen - schnell umstellen. Zwar könnte das Unwohlsein auch von schlechten Arbeitsbedingungen oder extremem Leistungsdruck kommen. Nur: Bis sich daran etwas ändert, dauert es Jahre - falls man es überhaupt selbst in der Hand hat. An der Ernährung lässt sich sofort schrauben und Kontrolle gewinnen. Hinzu kommt Individualisierung: "Ich bin etwas Besonderes, weil ich diese Unverträglichkeit habe, und da muss ich mich jetzt drum kümmern."
Wird unsere Esskultur nun abgeschafft, weil wir uns nur noch für die eigene Gesundheit ernähren?
Es findet jedenfalls eine weitere Individualisierung statt. Dadurch erodieren herkömmliche Formen des Zusammenseins beim Essen, wie der Familientisch. Dafür entwickeln sich neue Formen der Esskultur. Der 16-Jährige isst sonntags vielleicht nicht mehr bei der Oma, tauscht sich aber dafür mit seinen Kollegen im Fitnessstudio aus, welche Low- oder Highcarb-Diät er gerade ausprobiert. Darüber hinaus entstehen neue Formen des sozialen Miteinanders beim Essen. Denken Sie nur an die Foodfestivals, die immer beliebter werden, oder Kochevents. Da geht es nicht um Gesundheit oder Selbstoptimierung. Es gibt eine richtige Szene, die Essen weiter mit Genuss verbindet. Genussvolles Essen und Trinken steigt heute in den Rang des gemeinsamen Musikhörens oder - beim Kochen - in den des Musizierens auf.
Inwiefern verstärken die sozialen Netzwerke die Individualisierung unserer Esskultur?
Soziale Netzwerke bieten auch beim Essen eine Plattform, auf der man sich schnell äußern kann - und ebenso schnell Zuspruch oder Widerspruch erhält, auf jeden Fall aber eine Form der Kommunikation lostritt. Ich nenne das "digitale Tischgemeinschaft". Es geht also im Grunde darum, zusammen zu sein.