Essay:Exzentriker - in Zeiten wie diesen besonders wichtig

Lesezeit: 5 min

Nina Hagen bei einem Auftritt auf dem Internationalen Jazz Festival 1985 in der Schweiz. Die Sängerin machte ihre Exzentrik zur Marke. (Foto: imago/ZUMA/Keystone)

Wer anders ist, wird hierzulande gerne belächelt. Warum eigentlich? Gerade unruhige Zeiten verlangen doch nach unruhigen Köpfen und originellen Querdenkern.

Von Max Scharnigg

Vor einigen Monaten erschien in der Welt ein Interview mit der Publizistin Angelika Taschen. Die Weitgereiste sprach wie aufgezogen über Berliner Restaurants, Künstler, rappte Markennamen, Zutaten und Lokalitäten ins Aufnahmegerät. Sie war herrlich manieriert, bot Einblick in die Lebensart einer Dame, die sich immer schon mit Lebensart beschäftigte. Eigentlich war es also ein Experten-Interview.

Die Leserschaft aber war nicht unterhalten von dieser leichten Muse, sondern eher verstört. Wochenlang wurde in den sozialen Netzwerken hämisch über die detaillierten Oberflächenkenntnisse gelästert, über diese Häufung von feinen Banalitäten. Man fand das albern, abgehoben und machte Frau Taschen sogar dafür verantwortlich, dass Berlin sich in Richtung Weltmetropole verändert und Kaffee nirgends mehr aus Kannen in den Blechnapf geschüttet wird.

Nina Hagen wird 60
:"Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfüll'n?"

Pöbeln kann Nina Hagen immer noch ganz gut. Sie bezeichnete Lady Gaga jüngst als "satanische Schlampe". Wie die 60-Jährige zur "Mutter des Punk" wurde - und warum sie heute enthaltsam lebt: elf Zitate zum Geburtstag.

Von Johanna Bruckner

Ist Angelika Taschen eine Exzentrikerin? In England oder den USA würde sie mit ihrem Wissen zur idealen Badewannen-Platzierung kaum auffallen. Hierzulande aber bewegt sie sich damit offenbar tatsächlich ex centro, außerhalb der Mitte.

Wer in Deutschland grundlos herausragen möchte, macht sich verdächtig

Die Mitte ist der lauwarme Konsens, das Erwartbare und eben auch: das vom Publikum Zugestandene. Wer sich an den Rand begibt und ungewöhnliche Lustbarkeiten zur Schau stellt oder nur eine übersteigerte Feinnervigkeit, wird zum Sonderling erklärt. Wenn er zwanghaft ist, ist er ein Neurotiker, wenn er in einem Dorf wohnt, einfach nur der Spinner vom Ende der Straße. Wer aber öffentlich sein Glück am Rand findet, bekommt dort eventuell Bleiberecht und wird als Exzentriker anerkannt. Genieverdacht hilft dabei sehr.

Wir Deutschen tun uns mit diesem Zugeständnis aber schwer, bei aller liberaler Grundhaltung - oder gerade deswegen. Den Grund, warum in England der Exzentriker erfunden, geadelt und sorgsam gehegt wird, sehen Soziologen auch in der intakten Klassengesellschaft. Wo ein Ausbrechen aus den Standesschranken schwer ist, findet persönliche Entfaltung eben mit einer Flucht an den Rand statt, mit einem Ausbeulen der Regelwerke - sei es als schrulliger Schneeglöckchenzüchter, Nudist im Dienst der Royal Navy oder eben Boris Johnson.

Im protestantisch-technoiden Deutschland und übrigens auch in Skandinavien kann man hingegen die flachen Klassengrenzen gut durchwandern - wenn man sich anpasst. Wer hier dennoch grundlos herausragen möchte und Seltsamkeiten kultiviert, ist eher verdächtig.

Es genügt schon eine Fliege oder ein Schnauzer, um als exzentrisch zu gelten

Die Schweden haben Begriffe für diese Freude an der Norm: Lagom für unauffällig-harmonisches Mittelmaß und Janteloven für jene gewünschte Selbstzügelung im gesellschaftlichen Miteinander, die den Erfolg des Kollektivs sichert. Am Kollektiv ist ein Exzentriker aber durchaus auch beteiligt - er schreitet ihm im besten Falle voran. Vollbringt mit seinem Anderssein eine Art Pionierleistung. Exzentrik ist ein geöffnetes Fenster, aus dem man das sieht, was möglich ist. Exzentriker würzen die Welt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie wären im gegenwärtigen graubraunen Einheitsbrei aus Angst, Unzufriedenheit und Gejammer eine wertvolle Zutat.

Auf bundesdeutscher Bühne ist das aber eine Rolle, die traditionell schwach besetzt ist. Es genügen ja schon eine Fliege, um Karl Lauterbach, ein Schnauzer, um Horst Lichter, eine Non-Frisur, um Jean Pütz einen exzentrischen Anstrich zu geben, obwohl das ganz handfeste Menschen sind, die sich seit Jahrzehnten nur einen oder zwei winzige Spleens erlauben. Derlei reicht hier als beklatschenswerte Besonderheit, genau wie Genschers gelbe Pullunder oder Schmidts Dauerzigarette nimmermüde Anteilnahme fanden.

Das Volk dürstet durchaus nach diesen kleinen Kapriolen und zeihbaren Ego-Trips. Wird es mehr als ein gelber Pullunder, muss das Exzentrische was abwerfen. Wie bei Rudolph Moshammer, Dirk Bach oder Nina Hagen, die ihre Exzentrik zu Markte trugen und letztlich akzeptiert waren wie der Transvestit auf dem Jahrmarkt - als belächelbare Attraktion und nie ganz satisfaktionsfähig.

In einem Vollbeschäftigungsland, einem schnurrenden Sechszylindermotor wie Deutschland, hat die Exzentrik aber grundsätzlich keinen guten Nährboden. Sie braucht Muße und ein Übermaß an Tagesfreizeit zur Entfaltung. Wer auf das Wochenende warten muss, um sich zu exponieren, ist kein Exzentriker. Nicht zuletzt deshalb stehen Aristokraten stets im Grundverdacht der Exzentrik, weil sie seit Generationen Zeit hatten, feinsten Verästelungen des Lebens nachzugehen und aus Langeweile Eigenheiten zu kultivieren, die keinen Ertrag abwerfen. Angelika Taschen ist in diesem Sinne eine Neo-Aristokratin, die die Oberfläche studieren kann und sich dafür von angeblich aufgeschlossenen Urbanisten scheel beäugen lassen muss.

Fetischist, Spinner, Selbstdarsteller, Paradiesvogel - wie man unter den Randfiguren eigentlich einen Exzentriker erkennt, ist nicht ganz klar. Es ist aber, ähnlich wie beim Gentleman, kein äußerlicher Vorgang, auch wenn das oft so gesehen wird. Nein, die Exzentrik beginnt mit einer couragierten Geisteshaltung oder, wie Madame Edith Sitwell in ihrem Werk "English Eccentrics" von 1933 notierte: "Es handelt sich nicht um eine Form der Verrücktheit, wohl aber um eine Form des unschuldigen Stolzes."

Eine Analyse von 1000 sonderbaren Persönlichkeiten versucht eine Einordnung

Es gibt wenige neuere Forschung dazu, lediglich der schottische Arzt David Joseph Weeks versuchte sich an einer Einordnung. Nach Analyse von 1000 sonderbaren Persönlichkeiten notierte er als Grundeigenschaften: Unangepasstheit. Kreativität. Anhaltende Neugier. Idealismus und Glaube daran, die Welt besser oder die Menschen glücklicher machen zu können. Intelligenz, Eigensinn und Freimütigkeit. Dazu die feste Überzeugung, selbst richtig zu liegen, bei gleichzeitigem Verzicht auf Bestätigung oder Anerkennung für die eigene Andersartigkeit.

Weeks Fazit war: "Das Hauptprinzip der Exzentriker ist es, dass diese Menschen ein komplettes inneres Leben für sich erschaffen haben. Exzentriker in kleinen Dosen sind für die Mitmenschen sehr angenehm."

Aber sicher! Weil sie eben als Stellvertreter dienen, für das, was man sich selbst verkneift. Der Exzentriker erlaubt sich das Leben auf der Trauminsel. Er predigt und verführt nicht, aber er macht vor. Und gerade deswegen wäre er in Zeiten populärer Heißlufterzeuger und völkischer Gleichmacher besonders wichtig. Wo darüber gestritten wird, was Leitkultur ist, was zu fremd wirkt oder den Wertekanon gefährdet, könnte ein Exzentriker, quasi als gesellschaftliche Sonde, als Erster in das Neue tauchen. Hinein in das, was die Mitte noch als unpassend oder exotisch erachtet. In derart verhärteten Zeiten müssten humanistische Querdenker und erprobte Grenzgänger eigentlich gefragte Ratgeber sein.

Auch wenn es dem Wesen des Exzentrikers natürlich zuwiderläuft, seinen Weg zum Trampelpfad für alle zu machen. Er definiert sich ja gerade durch seinen Abstand. Deswegen ist wahre Exzentrik heute schwer zu erkennen. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der das Unverwechselbare, die eigene Marke, von jedem herausgearbeitet wird.

Moden, Sitten und Etikette sind ausgeleiert, Anderssein ist längst Bestandteil des Vorabendfernsehens. Oder wie es Silvia Bovenschen in "Lob der Nuance" ausdrückt: "Der traditionelle Exzentriker ist keine Grenzfigur mehr: in der bloßen Zitation des Exzentrischen verliert der Exzentrische seine Ambivalenz und damit gewissermaßen seine Exzentrizität."

Andersartigkeit ist heute nicht mehr mit Grellheit, Spiel mit den Geschlechterrollen und bunt karierten Anzügen zu unterstreichen, sondern mehr denn je eine Frage von Charakter und Mut. Die neuen Medien sind nämlich nicht nur Bühnen, sondern auch Pranger. Wo jeder alles kommentiert, sieht sich ein origineller Geist einer noch breiteren Front ausgesetzt als zu einer Zeit, in der in jedem Dorf ein bis zwei Exzentriker vor sich hinwurschteln konnten. Gemieden waren sie vielleicht, aber auch notwendig im Gleichgewicht der Gemeinschaft. Heute steht es auf Facebook schnell 10 000 gegen einen, Hassbotschaften inklusive. Wenn alle vernetzt sind, wirkt ein Solitär noch fremder.

An gelebtem Widerstand gegen die Norm ist auch heute noch Bedarf

Und nur weil sich heute jeder selbst zur Schau stellt und flächendeckend Angst herrscht, als Spießer zu gelten, ist man einer progressiven Exzentrik nicht nähergekommen. Die entspringt nicht einem Aufmerksamkeitskalkül und auch nicht einer Psychose. Sie ist vielmehr Endprodukt eines gesteigerten Intellekts und einer überfeinen Sensorik.

Dem wahren Exzentriker muss man zutrauen, dass ihm das Spielen der üblichen Klaviatur einfach zu langweilig geworden war. Nicht die Pose, sondern die Tat ist dabei entscheidend. Oscar Wilde soll einmal eine ganze Nacht neben einer Schlüsselblume gewacht haben, weil sie ihm kränklich vorkam. Der Holländer Bas Jan Ader bestieg 1975 ein winziges Segelboot, um eine Performance mit dem Titel "In search of the miraculous" aufzuführen. Er verschwand für immer auf der Nordsee.

An derart gelebtem Widerstand gegen die Norm wäre heute noch genauso Bedarf wie im England des 19. Jahrhunderts. Was für ein Echo gäbe es, wenn ein Karl Valentin heute seine Sicht auf Wechselintervalle von Aquariumswasser und die spezifische Farbe von Schallplatten (Dunkelschwarz!) darlegen würde? Frau Taschen weiß vermutlich die Antwort.

© SZ vom 24.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Karl Lagerfeld
:Die Welt von Kaiser Karl

"Ich erfinde mich jeden Tag neu", hat Lagerfeld über sich gesagt. Nun ist der Mann, der Chanel zur Marktmacht brachte, im Alter von 85 Jahren gestorben. Sein Leben in Bildern.

Von Violetta Simon

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: