Essay:Der kleine Ozean

Schaukasten, Spielzeug, Designobjekt: Das Aquarium war immer eine Welt für sich. Heute muss es besonders edel sein.

Von Christian Mayer

Alles muss ja heute fließen, transparent und überschaubar sein, jeder muss ständig mobil bleiben: Passt da ein Aquarium nicht perfekt ins Büro, selbst wenn es etwas sperrig ist? Aber ja doch, sofern die Statik des Gebäudes das mitmacht. So wie bei einem Münchner Konzern, der sich gleich mal ein 12 000-Liter-Becken bestellte - als halb über dem Boden schwebende Unterwasserwelt, was nicht nur die Innenarchitekten, sondern auch die Statiker vor Probleme stellte. Schließlich hat das Aquarium ein Gesamtvolumen von 18 Tonnen, was man ihm keinesfalls ansehen darf. Leicht und frei dürfen sich die Mitarbeiter jetzt fühlen, wenn sie den Blick vom Bildschirm auf das Hinter-Glas-Panorama schweifen lassen.

Markus Mahl ist der Mann, der das Hightech-Becken des Konzerns von seinem Smartphone aus steuern kann. Dem Geschäftsführer der Aquarium West GmbH in München-Pasing genügt ein Klick, und schon liefert ihm die Anlage die neuesten Daten: Wie steht es um die Wasserqualität, was macht der Salzgehalt, der pH-Wert, die Temperatur? Mit technischen Detailfragen wollen sich seine anspruchsvollen Kunden nicht auseinandersetzen. In den allermeisten Fällen bestellen die Käufer auch noch einen Komplett-Service, Wartung und Reinigung gibt es für den entsprechenden Aufpreis. Das Aquarium gehört, genauso wie die Kunstsammlung und der Weinkeller, in gewissen Kreisen zu den Liebhabereien, mit denen man sich selbst am meisten beeindruckt.

Manche Nerds brachten es früher zur wahren Meisterschaft in der Beckenrandforschung

Wunderbare Welt der Fische: Wer einmal aquaristisch infiziert ist, kommt nicht mehr so schnell davon los, selbst wenn man den schillernden Glaskasten nur als Einrichtungsobjekt nutzt, als eine Art Lebend-Vollbildschirm, der in vielen modernen Häusern in die Designerschrankwand integriert ist. Das Aquarium, das zeigt die Lebenserfahrung, macht gute Laune, in vielen Arztpraxen und Wellness-Hotels dient es sogar als Tranquilizer.

Essay: Das Georgia Aquarium in Atlanta, USA, zählt zu den größten der Welt - hier kann man unter anderem Walhaie und Belugas bewundern.

Das Georgia Aquarium in Atlanta, USA, zählt zu den größten der Welt - hier kann man unter anderem Walhaie und Belugas bewundern.

(Foto: Hiepler und Brunier)

Man kann es ja auch ganz günstig haben. Weil Fische eher pflegeleichte Haustiere sind, zumindest auf den ersten Blick, zählte das Aquarium lange zur Kernausstattung deutscher Kinderzimmer. In den Zoogeschäften, von denen es damals noch in jeder Kleinstadt ein gutes Dutzend gab, lungerten Halbwüchsige vor den Becken mit den Regenbogenfischen oder den Buntbarschen herum und zählten ihre Markstücke, während ringsherum die Kanarienvögel kreischten. Das Aquarium stand auf der Wunschliste vieler Kinder sehr weit oben, aber wenn es dann endlich blubbernd mit zahlreichen hässlichen Röhren und viel zu viel Grünzeug im Zimmer stand, war es rasch eine etwas trübe Angelegenheit, weil die richtige Pflege mehr erfordert als das tägliche Einstreuen von Flockenfutter. Andererseits gab es damals echte Nerds, die Fachbücher verschlangen, ihren Eltern immer neue Nemos abtrotzten und es phasenweise zur wahren Meisterschaft auf dem Gebiet der Beckenrandforschung brachten.

Auch Frank Müller, der Kurator des Aquariums beim Tierpark Hellabrunn in München, ist seit Kindertagen auf Fische fixiert. Müller verbrachte seine Schulzeit in Tunesien, weil sein Vater dort beruflich zu tun hatte; die Blenniden, Seenadeln und sonstigen Bewohner seiner Aquarien holte die Familie direkt aus dem Mittelmeer: "Das war sehr praktisch: Wenn wir in Urlaub gefahren sind, haben wir die Fische einfach wieder ins Meer gekippt und bei unserer Rückkehr neue herausgefischt." Heute ist der 57-Jährige, wie viele andere Experten auf diesem Gebiet ein begeisterter Taucher, für 17 Großaquarien zuständig, auch für das 100 000 Liter fassende Münchner Hai-Becken. Die meisten Fische muss der Tierpark nicht auf dem freien Markt kaufen, die Zoos tauschen sie untereinander, und Frank Müller ist so etwas wie der europäische Chefkoordinator für den Leopold-Stachelrochen. Er führt genau Buch über jedes Exemplar dieser schwarzen Schönheiten mit den weißen Punkten, die ursprünglich in einem Nebenfluss des Amazonas zu Hause sind.

Aber nicht allein die Schönheit entscheidet darüber, ob ein Aquarium ankommt, es kommt auf die Inszenierung an. Während Zoobesucher im Angesicht eines Orang-Utangs oder eines Pinselohrschweins ein erhebliches Mitteilungsbedürfnis verspüren, verharren sie vor den ganz unterschiedlich beleuchteten Becken in stiller Andacht. Das Ballett der Quallen braucht keine Kommentierung, die Formation des Piranha-Schwarms oder der Soloauftritt des Seepferdchens vor herrlicher Korallen-Kulisse ist ohne Worte.

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Das Royal Aquarium in London um 1880. Foto aus dem Buch von Ursula Harter: "Aquaria - in Kunst, Literatur und Wissenschaft", Kehrer Verlag.

(Foto: The British Library)

Als Unterwasserbühne hat das Aquarium eine lange Tradition. Ursprünglich diente es dem Amüsement der Mittel- und Oberschicht, vor allem die Engländer liebten die neue Erfindung. Schon das allererste Glas-Aquarium, das im Mai 1853 im Zoologischen Garten des Londoner Regent's Park eröffnet wurde, war eine Sensation. Es löste eine wahre Manie aus, wie die Autorin Ursula Harter in ihrem Buch "Aquaria - in Kunst, Literatur und Wissenschaft" schreibt. In New York, Frankfurt, Paris, Wien und Hamburg eröffneten immer spektakulärere Kristallpaläste mit immer fantastischeren Meeresbewohnern. Der 1869/70 erschienene Roman "20 000 Meilen unter dem Meer" von Jules Verne steigerte die Sehnsucht nach der fremden Welt ins Absurde, auf einmal waren Tiefsee-Kraken Kult. Das Aquarium wurde zum Salon-Event, mit dem ein paar wenige Großbetreiber viel Geld verdienen konnten - wahrscheinlicher war aber, dass die Investition sie direkt in den Ruin führte.

Auch heute noch boomt das Geschäft mit den großen Fischen, genauso wie der Markt für High-End-Aquarien. In den vergangenen Jahren wurden gigantische Aqua-Themenparks wie auf der chinesischen Insel Hengqin aus dem Boden gestampft. Mehr als eine halbe Milliarde Euro soll das 2014 in Betrieb genommene "Chimelong Ocean Kingdom" gekostet haben, das die Besucher mit einer Reihe von Wasserwelt-Rekorden ködert. 22,7 Millionen Liter fasst allein das Walhai-Becken. Im Vergleich dazu ist der Aquadom im Berliner Hotel Radisson Blu - mit einer Million Liter Salzwasser das größte zylindrische Aquarium der Welt - nahezu bescheiden. Besucher können mit dem gläsernen Aufzug mitten durchs Meer fahren und in 25 Meter Höhe wieder auftauchen.

Auf dem Rückzug sind heute dagegen die selbstbetriebenen Klein-Aquarien, die früher in jedem zweiten Haushalt zu finden waren und in keinem China-Restaurant fehlen durften. Der Goldfischzüchter alter Schule hat seine große Zeit hinter sich; seine Expertise stammt oft noch aus der Zeit, als Helmut Kohl im Bonner Kanzleramt ein Aquarium mit südamerikanischen Welsen und Salmlern aufstellen ließ - der Berliner Zoo hatte es dem Kanzler geschenkt, nachdem dieser bei einem Besuch völlig entrückt vor dem Fischbecken gestanden hatte.

Ein Aquarium hat, Kohl wusste das, eine tiefenentspannende Wirkung. Man kommt da herrlich runter, man wird selbst Fisch. Und wenn das Design und der Inhalt nicht ganz so cool sind: Schlamm drüber.

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