Ernährungstrend:Algen sind das neue Superfood

Knackig wie Friséesalat und frisch wie Meerwasser: Inspiriert von der Spitzenküche experimentieren auch immer mehr Hobbyköche mit dem Meeresgemüse.

Von Claudia Fromme

Er weiß genau, wann ihn die Alge gepackt hat. Einige Sommer ist es her, in einem Restaurant in La Coruña. Irisch Moos lag hübsch drapiert auf seinem Teller, die krause Rotalge, die hier an der spanischen Atlantikküste auf Steinen wächst. Als Otto Koch in den frischen Knorpeltang biss, im "Árbore da Veira", packte ihn alles, sagt er. Die Textur, "knackig wie Friséesalat", der Geruch, "wie frisches Meer", der Geschmack, "intensiv nach Krustentieren".

Das möchte man probieren, sofort, auf der Stelle, als der Spitzenkoch in seinem Wohnzimmer in Gröbenzell bei München von der Alge schwärmt. Sein Kochstudio ist gleich im Haus. "Geht nicht", sagt Otto Koch. Geht nicht? "Ist nicht so einfach mit den Algen", antwortet er bedächtig und schenkt Ingwertee nach.

Das ist mal erfrischend, angesichts der Algenhysterie, die gerade um sich greift. In den zurückliegenden Monaten sind fünf Kochbücher zum Thema erschienen, auch Otto Koch hat eines geschrieben. Hello-Kitty-Erwachsene lieben die aus New York importierte Einhorn-Latte, die schlumpfmäßig mit Blaualge gefärbt ist, bei veganen Stehpartys ist gebratener Lappentang zum Bier gerade das große Ding, schmeckt wie krosser Speck. In Kopenhagen gibt es Algenbier, aus Österreich kommt die Algenlimo "Helga", die es schon in die TV-Gründershow "Die Höhle des Löwen" geschafft hat.

Algen also überall. Nicht nur als viel gepriesene Weltretter, weil sie dreimal mehr Kohlendioxid aus der Luft binden können als jede Landpflanze und in Medizin und Kosmetik Karriere machen. Vor allem sind Algen das Lebensmittel der Zukunft, nachzulesen auch in Food- und Trendreports. Weil sie rasch wachsen und reich an Ballaststoffen, Proteinen, Eisen, Jod und Vitaminen sind, könnten sie als quasi unerschöpflicher Nährstofflieferant ein Mittel gegen den Hunger in der Welt sein. Durch den Klimawandel versteppen zunehmend fruchtbare Böden, bei einer schnell wachsenden Weltbevölkerung. Das Meer könnte als Acker der Zukunft viele Probleme lösen.

Ein Eimerchen frische Algen vom Markt trägt der Hobbykoch heute noch nicht nach Hause

In der hedonistischen Gegenwart des Hobbykochs ohne Weltrettungspläne ist es allerdings nicht so, dass der auf den Wochenmarkt geht und ein Eimerchen fangfrische Algen nach Hause trägt. "Spontan sagen: Ich koche heute ein großes Menü mit Algen, das geht nicht", sagt Otto Koch. Jedenfalls nicht mit frischer Ware. Es gibt dieses Superfood auch nicht überall da in Speisequalität, wo Meer ist; was im Badeurlaub an den Füßen klebt, ist selten Genuss. In China werden die meisten Algen produziert, Japan ist bekannt für Zuchtfarmen. In Europa wird vor allem wild geerntet, in Norwegen, Frankreich, Irland und Spanien, wobei der europäische Anteil an der Weltproduktion nur bei fünf Prozent liegt. Speisealgen sind hierzulande, abgesehen von einer kleinen Zucht auf Sylt, ein reines Importprodukt. "Eigentlich kostet ein halbes Kilo frische Algen aus Galizien nur acht Euro, aber weil sie nur 10 Tage haltbar sind, treibt die Luftfracht den Preis auf 80 bis 90 Euro", sagt Jürgen Mann, Geschäftsführer der Firma Creative Cuisine, die Algen jeder Art importiert und vertreibt.

Die meisten Algen, die im deutschen Handel erhältlich sind, stammen aus Asien, seltener aus Europa, und werden getrocknet oder eingelegt verkauft, Mikroalgen gibt es als Pulver. Sie kosten weit weniger als Frischware. "Eine gute Alternative", nennt Jürgen Mann die haltbaren Algen, die in Salz eingelegt fast wie Frischware seien und getrocknet in Wasser eingeweicht gut funktionierten. "Nur ein Kompromiss", seufzt Otto Koch, der auf Tauchgang in Galizien war, wo das Familienunternehmen Porto-Muiños Algen frisch erntet und damit auch deutsche Spitzenköche versorgt.

Heute gibt es 40 000 bekannte Algenarten, davon könnte man 160 in der Küche verarbeiten, verwendet werden bislang ein Dutzend. Die bekanntesten essbaren Algen sind: Nori, Wakame, Kombu, Dulse und Hijiki bei den Makroalgen, die bis 50 Meter lang werden können, sowie Chlorella und Spirulina bei den Mikroalgen, die in der Küche zum Einfärben oder zum gesunden Anreichern von Smoothies genutzt werden.

Etwa zehn Millionen Tonnen Algen werden weltweit jährlich geerntet, fast die Hälfte davon ist die Rotalge Nori, die leicht süße Sushialge zum Einrollen von Makis. Rot ist auch Dulse, sie eignet sich für Suppen, als Beilage zu Fisch oder, in Butter angebraten, als würziger Snack. Die Braunalge Wakame findet sich oft im Salat, aber auch als Gemüse oder Würzbasis. Die braune Kombu ist durch das pflanzliche Glutamat ein guter Geschmacksgeber in Soßen, auch wird daraus die typische Brühe Dashi für Misosuppe gekocht, als Gemüse funktioniert sie ebenso. Hijiki, auch eine Braunalge, schmeckt nach Meer und Fisch mit leichten Anisaromen, Meeresspaghetti machen sich mit milder Note von Bohnen und Muscheln gut in Reis und Pasta oder als Beilage. Ergänzt wird das Portfolio durch rotes Irisch Moos oder den grünen Meeressalat.

"Vor zwei, drei Jahren waren Algen abseits der Spitzengastronomie in Deutschland noch kein Thema", sagt Jürgen Mann, der Importeur. Das ändere sich langsam, wie so oft, beeinflusst durch die Arbeit experimenteller Spitzenköche. In der Molekularküche von Ferran Adrià spielten Algen von Anfang an eine zentrale Rolle, als natürliches Geliermittel wie Algin und Agar für seine Sphären und Gelees, aber ebenso als Zutat - das spanische Restaurant El Bulli lag direkt an der Costa Brava.

Als Würze machen Algen jeden Braten perfekt

In Deutschland arbeiten einige Spitzenköche mit Algen, Standard sind sie aber auch in der gehobenen Gastronomie noch nicht. Tim Raue nutzt sie seit jeher für seine asiatisch inspirierte Küche in Berlin, Johannes King vom Söl'ring Hof auf Sylt arbeitet gerne mit Algen, Otto Koch hat Irisch Moos nach seinem Weckruf in Galizien seiner Weißwurst aus Pulpo beigefügt.

Tohru Nakamura, Küchenchef im Werneckhof in München, kommt ohne Algen nicht aus, klar, seine Küche ist stark asiatisch beeinflusst. "Ohne Algen zu kochen ist für mich, als würde man einen französischen Koch bitten, auf Zwiebeln zu verzichten", sagt er. Dass es Kochbücher mit Algen nun gehäuft gibt, findet er "interessant", wobei er ihre Stärke im Hintergrund sieht. "Algen haben kein plakatives Gesicht, sie stehen oft auch nicht auf der Karte", sagt er. Sehr häufig dienten sie als Würze.

Kombu sei seine Lieblingsalge, sagt Nakamura, sie gebe durch die Fermentation beim Trocknen Gerichten den warmen, harmonisch-herzhaften Umami-Geschmack, also jenseits von süß, sauer, scharf und salzig. Kombu sei ein "Katalysator des Eigengeschmacks", nicht nur in der asiatischen Küche. Koche man zum Beispiel Spargelspitzen damit, komme der Spargelgeschmack besser heraus. Andere Köche nutzen Kombu im Rinderbratenfond.

Auch in der gehobenen Patisserie haben Algen ihren Auftritt. Andy Vorbusch vom Dolder Grand in Zürich ist bekannt für experimentelle Desserts, die das Spektrum zum salzigen oder gemüsigen Menüabschluss als neue Farbe der Patisserie geöffnet haben. Vor vier Jahren entdeckte er Algen durch ein Geschmacksmuster, berichtet er, heute ist sein Signature Dish Kombueis mit Lakritz-Algen-Streuseln. Die Gäste seien aufgeschlossener, Desserts müssten heute nicht mehr "überzuckert" sein.

In der Gourmetküche ist die Alge ein geschätzter Gast, im normalen Leben, sagt Importeur Mann, sei der Verkauf "kein 100-Meter-Lauf, sondern Langstrecke", obwohl er sich gerade aus der veganen und vegetarischen Ecke viel erhofft hätte. Zwar gibt es Algen neben dem Feinkosthandel oft in Bioläden, aber so richtig gezündet, sagt er, habe das Thema dort noch nicht. Interessant sei auch ein Nord-Süd-Gefälle in der Verwendung von Algen. Die meisten Kunden lebten in Norddeutschland, da sei der Gaumen an den Geschmack von Meer und Salz gewöhnt, im Süden weniger.

Kaum einer kennt die Vorbehalte gegen Algen so gut wie Jörg Ullmann; der Biologe betreibt den Blog "Die Welt der Algen" und ist außerdem Geschäftsführer der größten Mikroalgenfarm Europas in Klötze in Sachsen-Anhalt. Hier bei Roquette werden mikroskopisch kleine Chlorella und Spirulina vor allem für den kosmetischen und medizinischen Bereich gezüchtet, aber auch als Farbstoff, für blaue Gummibärchen oder als Zutat in der Limo "Helga". Fermentierte goldene Chlorella aus Klötze soll Butter und Eier beim Backen verlustfrei ersetzen.

"Funktioniert wirklich, ergibt einen supersaftigen Gugelhupf", sagt Ullmann und setzt an zur Tour durch die Röhrenanlagen, in denen auf 500 Kilometern gewundener Länge Algen leuchtend grün wachsen. Ullmann, der mit seiner Frau auch ein Algenkochbuch geschrieben hat, stößt zuerst selten auf Begeisterung, sagt er. Eine "riesige Schatztruhe im Wasser" warte auf ihre Entdeckung, aber die meisten Menschen dächten, wenn sie Algen hörten, an das Badeverbot im See wegen giftiger Algenblüte. Oder, dass Algen zu viel Schwermetalle enthielten. In der Tat hätten Algen die Fähigkeit, sich stark mit Stoffen aus ihrer Umgebung anzureichern, das sei ihr Vorteil. Aber neben Nährstoffen aus dem Meer könnten sie auch unerwünschte Stoffe aufnehmen. Die in Europa erhältlichen Algen würden aber streng kontrolliert.

Wer an einer Schilddrüsenüberfunktion leide, sollte sich bei Algen trotzdem zurückhalten, sagt Ullmann, da einige Arten, vor allem Kombu, extrem jodhaltig seien. Gutes Einweichen und mehrmaliges Abspülen schwemme aber viel Jod aus. Das reichliche Wässern sei sowieso sinnvoll, sonst schmeckten Algen zu salzig.

Wie verbreitet sind Algen heute also in Deutschland? Sicher noch nicht so weit, wie die Kochbücher glauben machen wollen. Auch nicht, wie der russische Science-Fiction-Autor Isaac Asimov 1964 für das Jahr 2014 prognostizierte. Da würden Menschen "Algenprodukte in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen" essen, so glaubte er. Noch seien Algen fern der asiatischen Küche eine Mode, sagt Tohru Nakamura. "Von jedem Trend bleibt aber etwas übrig." Vor Jahren wären Koriander oder Ingwer auch exotische Zutaten gewesen. Inzwischen gehörten sie für viele zum Kochen zu Hause selbstverständlich dazu.

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