Süddeutsche Zeitung

Ernährung:Glutenfrei, laktosefrei, vegan - nichts kleines Rundes?

Die angeblichen Unverträglichkeiten von Gästen, ihre immer individuellere Ernährung, Diäten und Sonderwünsche treiben Köche in den Wahnsinn.

Von Georg Etscheit

Kein schlechter Witz, sondern eine wahre Geschichte: Zugetragen hat sie sich in einem Gourmetrestaurant im Hamburger Zentrum. Ein Gast will seinen runden Geburtstag feiern, mit einem ebenso feinen wie vorab fein abgestimmten Sechs-Gänge-Menü. Solche Gesellschaften sind gern gesehen: Die Bude ist voll, Küche und Service können planen. Nur eine Dame, so die Ankündigung, vertrage weder Gluten noch Laktose. Für sie möge man doch bitte ein Spezialmenü kreieren, ohne Getreide- und Milchprodukte.

Weil doch alles "so lecker" klingt

"Wenn wir das rechtzeitig wissen, ist das kein Problem", sagt der Küchenchef, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Die Tischgesellschaft findet sich schließlich ein zum großen Tag, die Dame, die milch- und glutenhaltige Produkte nicht verträgt, studiert das reguläre Menü - und entscheidet sich dann kurzfristig um, weil das doch alles "so lecker" klingt. "Rinderfilet, Sahnesoße, Brot, Butter, das volle Programm", sagt der Küchenchef, der sich einmal mehr umsonst Gedanken gemacht hat, was er auftischen könnte, ohne die Gesundheit seines Gastes zu ruinieren.

Seit gesunde Ernährung ein Megatrend geworden ist, seit immer öfter über Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten berichtet wird, seit der Lebensmittelhandel mit "Frei von...-Produkten" enorme Umsätze macht und eine wachsende Zahl von Menschen glaubt, ihre Ernährung umstellen zu müssen, ist das Leben für Köche härter geworden. "Damit haben wir jeden Tag zu tun", sagt Tony Hohlfeld, Küchenchef im Gourmetrestaurant Jante in Hannover. "Mindestens ein Gast am Abend äußert spontan Sonderwünsche." Was wenig klingt, ist ein riesiges Problem im Gourmetsegment, wo der gesamte Ablauf an winzigen Stellschrauben hängt. Schon vor drei Jahren klagte ein deutscher Spitzenkoch auf Facebook: "Die Thematik nimmt ungeahnte Dimensionen an, normales Kochen ist kaum noch möglich." Doch alles Klagen hilft nichts. Der Gast ist König.

Spezialmenü mit Kuhmilch-Cappuccino abrunden

So gut wie jeder Küchenchef, ob im bodenständigen Wirtshaus oder in der Haute Cuisine, kann auf Nachfrage Anekdoten zu Sonderwünschen offerieren. Von Gästen, die dem Service ganze Listen von Allergien und Unverträglichkeiten in die Hand drücken und die Köche zur Verzweiflung treiben, von angeblich laktoseintoleranten Menschen, die sich aber zum Abschluss des Spezialmenüs noch gerne einen Cappuccino mit normaler Kuhmilch servieren lassen. Von Tischen, an denen jeder Gast mit anderen Sonderwünschen daherkommt. Im berühmten Kopenhagener Restaurant "Noma" kündigte ein Besucher sogar einmal an, seine Frau könne leider nichts essen, "was klein und rund" sei.

Für ambitionierte Köche ist das auch deshalb ein Problem, weil sie wirklichen Allergikern, die ihre Einschränkung vorab mitteilen, etwas bieten und sich gewissenhaft darauf einlassen möchten. "Es kann ja nicht sein, dass wir für Allergiker oder Vegetarier nur was weglassen, zum Beispiel die Jakobsmuscheln zum Grünkernrisotto", sagt der bereits erwähnte Hamburger Küchenchef. "Ich will schon zeigen, dass ich mir auch für diese Gäste Mühe mache.

Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten nehmen zu, das ist wissenschaftlich unbestritten. Etwa 30 Prozent aller Erwachsenen leiden mittlerweile nach Auskunft der Europäischen Stiftung Allergieforschung (ECARF) an mindestens einer diagnostizierten Allergie, knapp fünf Prozent an einer Nahrungsmittelunverträglichkeit. Sie entwickeln Hautrötungen, Magengrummeln oder sogar Asthmaanfälle, wenn sie Nüsse essen oder Milch trinken.

Deutlich höher ist die Zahl der Menschen, die auf bestimmte Lebensmittel verzichten, weil sie die nach eigener Einschätzung nicht vertragen. Sie meiden laktosehaltige Milchprodukte, Lebensmittel mit viel Histamin wie Rotwein oder Käse, entsagen dem Fruchtzucker oder Klebereiweiß (Gluten), scheuen Erdnüsse oder Krebstiere. Womöglich hat man es hier oft mit einem Placebo-Effekt zu tun. Der Akt des Verzichts wirkt dann nicht mal unberechtigt, er lindert Leiden, die womöglich andere Gründe haben, Stress oder Eheprobleme.

Die "Lifestyle-Frage"

Rainer Roehl von a'verdis, einer Beratungsfirma der Bio-Gastronomie, vermutet, dass aber auch die "Lifestyle-Frage" als Motiv nicht zu unterschätzen sei. "Genussvoll aus der Fülle des Angebots zu schöpfen, scheint mehr und mehr out zu sein", sagt Roehl. "Individualität ("Du bist, was du isst!") zeigt sich heute in dem, was man nicht isst, was man vermeidet." Die "Frei von"-Philosophie sei ein dominanter Trend im Lebensmittelhandel und in der Gastronomie, sagt Roehl. "Leider." Er staune immer wieder, "wie viel Geld Menschen heute auszugeben bereit sind, damit irgendetwas nicht im Essen ist", witzelt auch ein Spitzenkoch aus Norddeutschland.

Seit Dezember 2014 müssen alle Restau-rants auf der Speisekarte oder im Beratungsgespräch ihre Gäste über mögliche Allergene in ihren Speisen aufklären. Die von der EU eingeführte "Lebensmittel-Informationsverordnung" listet 14 "Hauptallergene" auf - von glutenhaltigem Getreide über Krebstiere, Fische, Eier, Nüsse und Sellerie bis zu "Weichtieren und daraus gewonnenen Erzeugnissen". "Wenn man auf das alles verzichten müsste, wäre das schon eine maximale Verarmung der Küche", sagt Roehl. Der anhaltende Trend zu vegetarischer oder veganer Ernährung ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Diethard Urbansky vom Restaurant Dallmayr in München zählt zu Deutschlands Top-Köchen. Sein puristisches Konzept der "klassischen Moderne", dekoriert mit zwei Michelin-Sternen, ist schon an der Speisekarte abzulesen, die jeweils nur Hauptzutaten auflistet, ganz schnörkellos.

Nu (n), Kr, So, Kr, Er. Mi, Ses, Fi

Auf Nachfrage gibt es noch eine andere Karte. Sie sieht weniger puristisch aus, eher wie das Periodensystem der Elemente aus dem Chemieraum im Gymnasium. Unter dem Fischgang "Makrele, schwarzer Tee, Tonic" stehen in rot die Abkürzungen für Allergene und Zusatzstoffe: Nu (n), Kr, So, Kr, Er. Mi, Ses, Fi. Heißt soviel wie: enthält Schalenfrüchte (Haselnüsse), Krebstiere, Soja, Erdnüsse, Milch- und Milchzucker, Sesam, Fisch. Stolz ist Urbansky nicht auf diese Karte. "Wenn man die jedem Gast in die Hand drücken würde, dächten die Leute wahrscheinlich, man sei nicht ganz richtig." Auch bedeute es viel zusätzliche Arbeit, für jede Zutat die Allergene aufzuschlüsseln. Zum Glück hätten bislang nur wenige Gäste danach gefragt.

Wie im Gourmetlokal heute üblich, wird auch im Restaurant Dallmayr nichts dem Zufall überlassen. Wer einen Tisch bucht, erhält einen Tag vor dem geplanten Besuch einen persönlichen Anruf: bestehen Sonderwünsche? "Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die Leute reinkommen und jeder etwas anderes bestellt: vegan, vegetarisch, lactosefrei. "Dann geht der Stress los. Die Hütte ist voll und wir rotieren in der Küche." Natürlich hat auch Urbansky den Ehrgeiz, die Frei von-Irgendetwas-Gerichte auf gleichem Niveau zu kochen wie sein besterntes Standardmenü.

"Veggie ist eigentlich kein Problem, weil die Gemüseküche sehr vielfältig ist." Bei vegan gingen die Probleme los, weil kein Ei als Bindemittel zur Verfügung stehe und so gut wie jeder fetthaltige Geschmacksträger tabu sei. "Nichts rundet eine Soße besser ab als etwas Butter, kalt einmontiert." Pflanzenfette hätten eine andere Beschaffenheit, sagt der Koch. Oder, wie Olivenöl, einen dominanten Eigengeschmack.

"Wahrscheinlich hatte sie gerade nicht ihren veganen Tag"

Ist die Frei-von-Küche eben doch nur eine Magerküche mit dem Beigeschmack des Diätetischen? Tony Hohlfeld nimmt den Frei-von-Trend sportlich. "Sicher, das wird in den letzten vier, fünf Jahren immer extremer. Doch mich spornt das eher an." Seine Küche sei "eh sehr reduziert, sehr vegetabil, nicht so sahnig. Da kann man auch mal etwas mehr weglassen."

Hohlfeld war einer der jüngsten Sterneköche Deutschlands. Mit dem gerade eröffneten ersten eigenen Lokal "Jante" in Hannover muss er sich die Michelin-Meriten wieder erkochen. Natürlich hat auch Hohlfeld eine hübsche Geschichte auf Lager. Eine Dame orderte mal ein rein veganes Menü. "Klar haben wir das gemacht, drei Gänge, alles ohne tierische Zutaten." Dann wollte sie aber doch gern das leckere Lachstartar von der Tageskarte. "Zwei Wochen später war sie dann noch einmal bei uns und hat auch Fleisch gegessen. Wahrscheinlich hatte sie gerade nicht ihren veganen Tag."

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SZ vom 09.01.2016/tamo
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