Neben dem Gesundheitsreform-Amerika oder dem Silicon Valley gibt es noch ein anderes, ein schimmerndes Sehnsuchts-Amerika. Es besteht aus Sommern an der Ostküste, dort, wo einst die Pilgerväter mit ihrer Mayflower anlandeten. Wo heute, nebeneinander und in anmutigen Abständen, Landhäuser, Pferdeställe und Bootsschuppen in der Sonne verwittern. Zwischendurch ein Country Club, wo die Mitglieder im Kreise ihrer Familien Krebse bestellen, auf ihr schönes Leben anstoßen und ihre Anekdoten aus Harvard zum Besten geben. Anschließend schütteln sie den Sand aus ihren Kakihosen und machen sich auf den Weg zu einer Sportart, die sie noch attraktiver , ja enthusiastischer aussehen lässt. Wenn das denn überhaupt möglich ist.
Viele Amerikaner empfinden bei dieser Szenerie einen ähnlich wohligen Assoziationsschauer - Privilegiertheit, Substanz, die Kennedys, die Kellys! - wie wir Europäer, wenn wir ein Schloss im Loire-Tal betrachten. Wer nun dieses Gefühl der Sehnsucht auf Flaschen ziehen, zu Stoff werden lassen oder gar verkörpern kann, sitzt demnach auf einer Goldader. Und bezeichnenderweise sind das meist die, die das Country-Club-Leben lange Zeit von der falschen Seite des Zauns, aber dafür eben auch umso eingehender betrachtet haben.
Ralph Lauren ist nicht sein ganzes Leben lang im Cashmere-Rolli durch seine Ländereien gestreift, er wurde als Sohn eines weißrussischen Einwanderers und Anstreichers in der Bronx geboren. Auch Millard "Mickey" Drexler kommt von dort, und als Kind wünschte er sich nichts sehnlicher als sein eigenes Zimmer. Beobachtungsgabe, Marketinggenie und Instinkt für das, wonach die amerikanische Mittelklasse sich sehnt - so auszusehen wie die amerikanische Oberklasse in ihrer Freizeit - haben beide reich gemacht. Lauren im High End-, Drexler im mittleren Preisbereich.
In den Neunzigern verwandelte Drexler als CEO mit wegweisenden Marketingstrategien und Anzeigenkampagnen die kleine Textilkette The Gap in einen Giganten der amerikanischen Pop- und Alltagskultur. 2003 stieß er seine Anteile ab - für 350 Millionen Dollar. Zwei Jahre später übernahm er die vor sich hin dümpelnde New Yorker Kette "J Crew", die Kleidung mit ebenjenem Neu-England-Appeal herstellte. Er entließ einen Teil der Belegschaft und berief dann, vielleicht sein smartester Schachzug, eine ebenfalls vor sich hin dümpelnde Hausdesignerin zur Schlüsselfigur des Unternehmens: Jenna Lyons.
Look des amerikanischen Traums
Diese beiden rollten die Marke auf, indem sie den Look des amerikanischen Traums mit dem Wissen des neuen Jahrtausends anreicherten - interessanterweise, ohne die Identität des Labels zu verraten. Und mit Lyons als Aushängeschild.
Lyons, heute 43, hatte vor mehr als 20 Jahren als Assistentin einer Assistentin in der Firma angefangen und sich unter wechselnden Managements zur Designerin hochgearbeitet. Was ein undankbarer Job war, der sich im Wesentlichen auf Kakihosen, Segelschuhe und Oberhemden konzentrierte. Gehobene Freizeitmode eben. Erst Drexler sah mehr Potenzial in J Crew und in der 1,83 Meter großen, brünetten, schlaksigen Frau, die man auf den ersten Blick eher in der Galerienszene vermuten würde.
Sie kombinierte die Dinge, wie kein anderer sie kombinierte. Herrenhemden zu Paillettenröcken. Pumps zu Jogginghosen. Ungezähmte Mähne zu Henry-Kissinger-Brille. Und - sie hatte ein Privatleben. Sie ging um 18.30 Uhr heim zu ihrem Mann, einem Künstler. Sie war eine Frau, die anderen Frauen keine Angst einjagte. Eine Anti-Anna-Wintour.
Heute, in Zeiten der Konsumenten-Demokratie, geht es auch in der Mode zunehmend weniger um die eine, allwissende unnahbare Instanz. Wenn heute etwas weltweit Sehnsucht erzeugen und bankable, also zu Geld gemacht werden soll, muss es im Netz funktionieren. Wenn man im Netz etwas verkaufen will, gilt es, die Ökonomie der Aufmerksamkeit auszutarieren und sie zu kontrollieren. Und die fehlende Haptik muss man durch einen anderen Mechanismus kompensieren: durch Personalisierung. Es reicht nicht, ein Kleid zu zeigen, das man verkaufen will; man muss dem Kunden zeigen, wie die Frau aussieht, die es empfiehlt, man muss zeigen, wie sie wohnt, wie ihre Freunde aussehen, was sie samstagvormittags macht. Man muss den Menschen da draußen vor den Bildschirmen beweisen, dass Mode keine Fiktion ist. Man braucht ein Narrativ, noch besser: eine Saga. Noch viel besser: eine Familien-Saga.
Und so stellte Jenna Lyons J Crew nicht nur ihr Können zur Verfügung, sondern gleich ihr ganzes Leben. Zunächst tauschte sie bei der Kleidung nur ein paar Ingredienzien aus, die Rezeptur sollte nicht kippen, aber der Cocktail sollte neu wirken. Konkret: Die Mode sieht immer noch nach gehobener Freizeitmontur aus, allerdings mit Brüchen, originelleren Farben und kleinen Seitenblicken auf die Garderobe der taubenschießenden Betty Draper. Die Pumps wurden spitzer. Die Verarbeitung hochwertiger. Zu den Kakis kamen gemusterte, enge Hosen dazu. Was vielleicht am wichtigsten war: Jenna Lyons kombinierte all das am eigenen Leib. Und sah phantastisch aus darin.
J Crew hatte 1983 als Katalog begonnen. Drexler und Lyons erhoben das alte Prinzip zum Trend, schließlich ist das Netz nichts anderes als ein gigantischer Warenkatalog. Sie investierten in die Website sowie in die Produktion und verknüpften beides wiederum eng mit Lyons Vita. Die Models trugen plötzlich ähnliche Brillen wie Lyons. Drexler und sie erfanden "Jennas Picks"; eine Rubrik, in der Lyons ihre Lieblingsstücke präsentiert. Was schon deshalb merkwürdig ist, weil sie diese ja selber hat designen lassen - genau wie die anderen Sachen auch. Die Strategie verfing trotzdem - wie so vieles in der Mode heute zunächst in den Blogs, wo immer häufiger auf J Crew verlinkt und wo Lyons mit Fotos und viel Beifall bedacht wurde. Mehr und mehr Frauen - unter ihnen Michelle Obama - zeigten sich angetan von dieser Frau, die ihnen vermittelte, dass man perfekt unperfekt sein konnte. Wobei die Anleitung dazu von Lyons gleich mitgeliefert wurde: ein bisschen Bohemien, ein bisschen Nerd, ein bisschen Omis Dachboden und ganz viel J Crew.
Drexler und Lyons vermarkteten nicht nur J Crew, sie vermarkteten Lyons bei und mit und in J Crew; und irgendwann auch ihr Leben abseits von J Crew. Plötzlich war Lyons überall, gab Interviews und Beauty-Tipps, erläuterte, warum sie welche Dinge wie auf ihrem Schreibtisch arrangierte, zeigte Oprah ihren Kleiderschrank, präsentierte in Wohnmagazinen ihr entspannt-schickes Brownstone-Haus in der entspannt-schicken Park Slope in Brooklyn, dazu ihren zweijährigen Sohn Beckett, ihren Mann . . . kein Detail ihres Lebens war zu marginal. Immer mehr Frauen bekannten öffentlich, süchtig nach dem Lebensstil von Lyons zu sein, und man kommt auf eine ganz erstaunliche Anzahl Treffer, wenn man bei Google die Worte "Jenna Lyons" und "Girl Crush" eingibt. So nennt man die nicht-sexuelle, aber trotzdem obsessive Verliebtheit von Frauen in andere Frauen.
Expansion nach Asien und Europa
Das alles sorgte bald für enorme Verkaufszahlen. Schon bis 2009 wurden die Umsätze um 14 Prozent gesteigert, trotz angespannter Wirtschaftslage. Der Jahresumsatz 2011: 511 Millionen. Doch wie in jeder amerikanischen Familien-Saga muss auch diese Geschichte flott weitergehen, sonst schaltet das Publikum um. Es wird weiter und weiter expandiert, nach Amerika sollen nun endlich auch die internationalen Märkte erobert werden. In Asien werden im Herbst die ersten Läden eröffnet, danach vielleicht in London. In Europa kann man J Crew seit ein paar Wochen im Internet ordern und so ebenfalls ein Teil der J-Crew-Familie werden.
Und derweil, in Jenna Lyons Küche? Da hat sich einiges getan. Lyons hat vor ein paar Monaten ihren Mann verlassen. Sie hat das Haus in der Park Slope, deren Einrichtung doch alle gerade kopiert hatten, mitsamt dieser und mit dreifachem Gewinn verkauft. Angeblich lebt sie nun mit einer Frau zusammen, einer wunderhübschen blonden Schmuckdesignerin, die ebenfalls ihren Mann verlassen hat. Wahrscheinlich sehen wir sie bald zusammen im J-Crew-Katalog, beim Frühstück, in ihrem neuen Ferienhaus in Montauk . . . Und selbst der größte Neu-England-Snob wird jetzt zugeben, dass das doch ein bisschen interessanter klingt als immer die olle Harvard-Geschichte.