Süddeutsche Zeitung

EM-Frisuren:Mut zur Matte

Während bei den Spielern der EM jede Strähne sitzt und der Schopf kunstvoll gefärbt wird, zeigen sich ihre Trainer gerne zauselig. Warum nur?

Von Silke Wichert

Theoretisch liegen nur ein paar Meter zwischen den Trainerbänken. Stilistisch gesehen aber trennen jemanden wie Italiens Roberto Mancini, mit seinen grauen Emporio-Armani-Anzügen, und den spanischen Nationaltrainer Luis Enrique in Cargohosen natürlich Welten. Die braven dunkelblauen Pullover über Button-Down-Hemd am Dänen Kasper Hjulmand haben nicht viel mit dem Vorrunden-Look mit Pyjama-Polo des englischen Coachs Gareth Southgate gemein. Und Joachim Löw legte in Sachen "Tailoring" die vergangenen Jahre eine konkurrenzlose Talfahrt hin, vorübergehend stand er im grauen, nur halb eng und über der Hose sitzenden T-Shirt an der Seitenlinie. Das ist kurz vor den Trainingsanzügen südamerikanischer Trainer. Die spielen bei der EM nur bekanntlich nicht mit.

Ein einheitlicher Trend scheint sich aber doch durch die Trainerreihen dieser EM zu ziehen: Mut zur Matte. Oder zumindest die Tendenz zu etwas rausgewachsenen Haarschnitten. Der 51-Jährige Enrique dürfte seinen Friseur jedenfalls schon länger nicht mehr gesehen haben. Der Kroate Zlatko Dalić hätte sich beim Training mit seiner Truppe längst eins von diesen Haarbändchen bei Verteidiger Domagoj Vida leihen müssen. Auch Hjulmand wirkt nicht so, als habe er es vor dem Turnier noch in den Salon geschafft. Mancinis fluffige, leicht zu lange Haarpracht macht seinen unerreicht unangestrengten Auftritt erst perfekt. Dass ihn das wirklich keine Mühe kostet, glaubt natürlich kein Mensch. Aber der Eindruck ist schließlich das, was zählt.

Die Trainer sind das Gegenprogramm zu ihren gestriegelten Spielern

Damit bilden die Männer am Rande des Rasens einen hübschen Kontrast zu ihren meist frisch frisierten Jungs auf dem Platz. Der Belgier Yannick Carrasco muss sich irgendwo zwischen Arbeitsort Madrid und Heimatland Belgien überlegt haben, es sei eine gute Idee, bei der EM in Mayonnaise-Blond aufzulaufen. Der Engländer Phil Foden reist wahrscheinlich nie ohne Haarschneider und Ein-Millimeter-Aufsatz im Kulturbeutel, um seinen Backstreet-Boy-Verschnitt auf Kurs zu halten. Paul Pogba hatte fürs Achtelfinale extra noch mal einen Streifen nachgefärbt. Sicher hatten er und sein Stylist noch Ideen für drei weitere Runden gehabt. Kreationen, die der Nachwelt nun leider vorenthalten bleiben. Schade.

Ausnahmen gibt es natürlich. Der Ukrainer Andrij Schewtschenko kommt mit seinem gestriegelten Kurzhaarschnitt ein bisschen wie der Streber in der Klasse 2020/21 daher. Ob Bart- und Haupthaar mit Eichhörnchen-Strähne vom Tschechen Jaroslav Silhavy wirklich so gewollt oder nur zauseliger Wildwuchs sind, ließe sich nur bei intensiver Betrachtung bis zum Finale klären, bleibt also voraussichtlich ungelöst.

Mit dem Ansatz zu mehr Länge liegen die Trainer einerseits voll im Corona-Trend. Laut Friseuren entdeckten im unfreiwillig coiffeurfreien Lockdown ja gerade Männer fortgeschrittenen Alters plötzlich ihre Liebe zu mehr Wuscheligkeit - angeblich nicht zuletzt, weil ihre Frauen es so mochten. Aber natürlich signalisiert so ein bisschen taktische Nachlässigkeit an der Seitenlinie auch: Wir haben Wichtigeres im Kopf als die Frisur auf demselben. Aufstellung, Spielanalyse, Standards trainieren. Wehe, dazwischen wird man von irgendeinem Fan auf dem Friseurstuhl fotografiert und fliegt dann aus dem Turnier.

Obendrein ist mehr Haar ungemein praktisch in diesem Job. Irgendwo muss man sich mit den verzweifelten Händen ja hingreifen, wenn der Videoassistent mal wieder auf Abseits entscheidet oder der eigene Stürmer alleine vorm Tor die Kugel einfach nicht versenkt. Joachim Löw konnte hier zuletzt in jeder Hinsicht aus dem Vollen schöpfen. Immerhin hat er jetzt früher Zeit als gedacht, mal wieder zum Friseur zu gehen.

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