Deutsche Gourmetküche:Stern? Schnuppe!

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Längst über Bratwurst und Klöße hinaus: die deutsche Küche.

(Foto: AFP)

Die Gourmetkritiker überschlagen sich jedes Jahr vor Begeisterung: Deutschland ist eine Weltmacht am Herd. Nur der Deutsche selbst will davon nichts wissen. Warum nur?

Von Marten Rolff

Dies ist ein Plädoyer für das gute Essen. Und weil es um Deutschland geht, muss das Menü rustikal eröffnet werden. Vorschlaghammer statt Vorlegegabel. Das ist zwar wenig elegant, aber notwendig, sonst will es am Ende wieder keiner verstanden haben. Bringen wir es also hinter uns: Kulinarisch betrachtet sind die Deutschen das peinlichste Volk Europas. Beweisen lässt sich so etwas natürlich nie, aber die Indizien sind erdrückend.

Oder muss man von Symptomen sprechen? Weil das Verhältnis der Deutschen zur gehobenen Küche mittlerweile ein ernsthaft pathologisches ist. Das Krankheitsbild: eine bizarre Form der Schizophrenie. Entsprechend widersprüchlich ist die Lage an den besten Tischen des Landes.

In dieser Woche sind die großen Gastroführer Michelin und Gault&Millau für 2016 erschienen, der Jubel ist wieder beachtlich. Das sogenannte deutsche Küchenwunder geht bald ins dritte Jahrzehnt und wird immer noch größer. Deutschland - eine Weltmacht am Herd, rufen die Kritiker: 290 Sternerestaurants, Rekord, nur Frankreich hat mehr. Deutsche Köche? Technisch brillant! Ein Exportschlager von Rom bis Bangkok! Doch lassen wir das Gourmetgeplänkel mal beiseite. Dann stellt sich nur eine Frage: Wieso steht dieser eindrucksvollen Küchenbrigade auch 20 Jahre nach Eckart Witzigmanns Wahl zum "Koch des Jahrhunderts" noch eine Nation von so erstaunlicher kulinarischer Verzagtheit gegenüber?

Deutsche Spitzenköche haben einen guten Ruf. Im Ausland

Beispiele gibt es überall. Da ist das Ergebnis der letzten Kantinenumfrage im Büro, das da lautet: deftiger und billiger bitte! Da ist die gut verdienende Nachbarin, die um eine Restaurantempfehlung bittet, ja, es dürfe gern mal was Schickes sein, so für 30 Euro vielleicht? Und da ist der Kollege in leitender Funktion, der flüstert, er sei kürzlich im "Tantris" gewesen, dem führenden Lokal der Stadt, "und was soll ich sagen, es war fantastisch, aber bitte: Erzählen Sie es keinem weiter!"

Der deutsche Gast - zerrissen zwischen Gier und Geiz, Genusslust, Neid und Schuldgefühl. Wie schade. Übertrüge man diesen Zwiespalt mit all seinen ungenutzten Möglichkeiten auf eine echte deutsche Leidenschaft, das Auto, so müsste man erstaunt feststellen: Die halbe Nation träumt offenbar davon, im Porsche 911 durch die 30er-Zone zu kutschieren.

Von den Verhaltensauffälligkeiten, die diese Zerrissenheit mit sich bringt, kann fast jeder Spitzenkoch berichten. Am peinlichsten ist das im Ausland, wo die Deutschen - aller Verwischung nationaler Eigenheiten zum Trotz - bis heute als Beschwerdeweltmeister gelten. Zahlen gibt es keine, doch fragt man den Service eines weltbekannten Toprestaurants nach den "schwierigen Fällen", dann lässt sich die Antwort so bündeln: Die Qualitätsbesessenheit der Japaner sei anstrengend, der Protz der Russen heftig. Doch die Herkules-Disziplin für Kellner rund um den Globus lautet auch im Jahr 2015: "Dem deutschen Gast ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern."

Auf der Suche nach Ursachen für diese Skepsis kommt man, egal auf welchem Niveau, an einer urdeutschen Frage nicht vorbei: Was kriege ich dafür?

Bei Köchen gilt der Deutsche als Gast, der für sein Geld das Maximum verlangt. Grundsätzlich ist das ja nicht verkehrt. Doch habe die Sache einen üblen Beigeschmack, sagt Otto Koch, der Münchner Grandseigneur der deutschen Haute Cuisine: "Bis heute ärgert es mich extrem, dass Gäste bei uns immer nach dem Preis eines Gerichts fragen, aber nie nach seinem Wert."

200 Euro für ein Abendessen? Kaum vermittelbar

Die Preis-Leistungs-Besessenheit wird dadurch befeuert, dass man im Land des Bildungsbürgertums weiter penibel unterscheidet zwischen angeblicher Hochkultur und allem restlichen Gedöns. 200 Euro für eine Opernpremiere? Kein Aufreger. 200 Euro für ein Abendessen? Ja, da kann man das schöne Geld ja gleich runterschlucken!

So konnte sich die Spitzenküche bei uns nie vom Vorwurf des Übertriebenen, Elitären befreien. Das Misstrauen ist in der Sprache zementiert. Wortschöpfungen wie Gulaschkanone (die Feldküche: ein deutsches Patent) oder Sättigungsbeilage reduzieren Essen traditionell auf eine Zweckmäßigkeit, die Italienern oder Spaniern im Traum nicht einfiele. Genussvokabeln gibt es kaum. Erstaunlich robust selbst im unironischen Sprachgebrauch ist indes der "Gourmettempel", der wie ein Relikt aus einer Nouvelle Cuisine-Parodie von Louis de Funès wirkt. Wie ein Übersetzungsunfall, der den Verdacht nährt, am Sterne-Herd fröne eine dubiose Sekte dem Götzendienst.

Das schürt die Schwellenangst, und sie hat viele Gesichter. Nicht immer ist es so hässlich wie im holsteinischen Schönberg, wo ein zorniger Mob vor Kurzem den Sternekoch Uwe Meßner mit Boykotten und Drohanrufen aus dem Ort jagte, weil man fand, für ein solches Lokal sei dort kein Platz ("Arschlöcher! Das wird nie was mit euch hier!"). "Kampf der Kulturen", schrieb das Magazin Brand eins.

Drei Sterne für Schnäppchenjäger

Nur in Deutschland kursieren absurde urbane Mythen, die Spitzenköche regelmäßig der Diskriminierung von Gästen bezichtigen. Die Tante der Bekannten eines Freundes, so heißt es da etwa, sei von einem Kellner wegen zu lauten Redens des Gourmetrestaurants verwiesen worden. Der Rechnung habe ein freches Bulletin beigelegen: "Bitte beehren Sie uns nie wieder." Bekannte Köche wie Alfons Schuhbeck und Johann Lafer haben Tausende Euro Belohnung ausgesetzt für den Gast, der ihnen einen solchen Zettel beibringe. Eingefordert wurde sie nie.

Drei-Sterne-Koch Thomas Bühner erhielt als Beilage zu den Rufschädigungen anonyme Drohbriefe. Trotz Bedenken machte der Niedersachse die ständigen Diffamierungen vor zwei Jahren öffentlich, per Pressekonferenz - "die richtige Entscheidung", sagt er heute. Bühners berühmtes Restaurant "La Vie" im Zentrum von Osnabrück ist ein Beispiel für das Dilemma der Spitzenküche. Einerseits reisen Gäste aus Tokio oder Los Angeles an, um bei ihm zu essen. Doch in der eigenen Stadt ist die Gourmet-Diplomatie kompliziert. Er habe die Preissensibilität selbst bei Gutverdienern unterschätzt, sagt der Koch. Ihre Skepsis. "Der Deutsche liebt das Erwartbare, den Italiener um die Ecke mit fünf Standard-Pasta-Soßen. Wenn wir aber in der Fußgängerzone vor dem La Vie eine Gratis-Blindverkostung anböten, dann hätten viele Angst, wir würden ihnen Froschschenkel oder sautierte Heuschrecke in den Mund schieben."

Irrglaube am Tisch

Die Briefaffäre machte Bühner klar, wie wichtig es ist, so viele "normale Menschen" wie möglich ins Lokal zu bringen. "Allen zu zeigen, wer wir sind". Daher bietet er abends unter der Woche nun sieben Gänge zu 98 Euro an. Drei Sterne für Schnäppchenjäger. Ein Erfolg. Und ein Risiko. Weil solche Preise auch die Fehlannahme zementieren, Spitzenleistung sei billig zu haben. Dabei ist die Gourmetküche heute mehr denn je ein finanzielles Himmelfahrtskommando. Nicht für Gäste, sondern für Köche.

Bei Tisch halten derweil viele stur am Irrglauben fest, ein Teller sei schon Avantgarde, wenn darauf Kalbsragout mit Blätterteigecken, Romanescoröschen und modischen Tupfern von Kürbis- und Betenpüree dekoriert ist. "Fast wirkt es so, als hätten die Deutschen irgendwann zu Wirtschaftswunderzeiten gemeinsam beschlossen, weiter schlecht zu essen, davon aber besonders viel", sagt Marin Trenk, Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Die Erklärung der Wissenschaft dafür? "Schwierig", sagt Trenk, der zur Globalisierung des Essens und den deutschen Essgewohnheiten forscht. Vielleicht müsse man schlicht akzeptieren, dass der Genuss bei einigen Völkern wie Thais, Chinesen oder Franzosen quer durch alle Schichten fest verankert ist und bei anderen eben nicht.

Der Blick in die Geschichte ist interessant, hilft aber wenig. Da ist der römische Historiker Tacitus, der die Tischsitten der Germanen, ihre faden Speisen, ihre Saufgelage schon vor knapp 2000 Jahren fassungslos als eine Art Frühform des Oktoberfests beschrieb. Oder "Kartoffelkönig" Friedrich der Große im spartanischen Berlin, dessen karge Küche unter den heimwehkranken französischen Gesandten berüchtigt war. Hundert Jahre später empfand man in der kaiserlichen Reichshauptstadt dann allzu edle Dinners ohnehin als französisch überfeinert.

Franzosenfeindschaft, Germanendurst und Preußentum, Kriege, Hungerkrisen und das bescheidene protestantische Pfarrhaus - all das mag zur Debatte beitragen, die deutsche Genussskepsis erklärt es nicht vollständig. Schließlich haben es auch die protestantischen Nachfahren der Wikinger binnen zehn Jahren mit der Neuen Nordischen Küche zu einem Weltruhm gebracht, mit dem sich ganz Skandinavien schmückt. In Dänemark, dem Land der pinken Industriesalami, habe man bis vor Kurzem keine fünf Rezepte für Schweinefleisch gekannt, scherzte Kopenhagens Starkoch René Redzepi. Heute ist Dänemark Pilgerstätte für Gourmettouristen.

Die Küche lassen wir uns was kosten, nicht das Essen

Dass die Spitzenküche ein interessanter Wirtschaftszweig ist, haben nicht nur die Regierungen in Paris, Kopenhagen, Madrid oder Stockholm erkannt, sondern auch jene im armen Peru, im gewaltgeschüttelten Mexiko oder im regelversessenen Singapur. Sie fördern Köche, schicken sie auf Tournee. In Deutschland hingegen versteckt man seine Chefs nicht nur, die Politik begünstigt den kulinarischen Kleinmut sogar, indem sie ihn beflissen spiegelt. "Deutsche Politiker sehen nach wie vor ein Wiener Schnitzel im (Berliner Promi-Lokal) Borchardt als Höhepunkt lukullischer Freuden", ätzte der Gault&Millau. Größtenteils habe das kulturelle Gründe, so vermuten Köche; und oft geht es auch darum, sich beim Wähler anzubiedern.

Nur nicht unter Prassereiverdacht geraten! Wohin Genuss und Flamboyanz in der Politik führen, weiß man ja seit dem Marsch der 68er durch die Institutionen: In eine verlogene (und heimlich bewunderte) Truppe, die damals Toskanafraktion hieß, weil sie bekanntlich die Legislaturperiode an der Chianti-Straße vertrödelte, wo sie mutmaßlich mit Nebeneinkünften zahlte. Wie aktuell diese Neiddebatte ist, durfte zuletzt SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück erleben. Als er im Wahlkampf zu Protokoll gab, er trinke nie Pinot für unter fünf Euro, brach landesweit Empörung aus.

Rinderbraten statt asiatische Häppchen

Besser fährt da, wer sich beizeiten von übertriebenem kulinarischen Aufwand distanziert. Wie Gerhard Schröder, der seine Brioni- und Cohiba-Ausflüge stets mit Currywurst und Flaschbier erdete. Was immerhin ehrlich wirkte. Sehr viel peinlicher waren da jene Landtagsabgeordneten, die sich im Vorfeld des G-7-Gipfels im Juni zum Abendessen auf Schloss Elmau einladen ließen. Ein Informationsbesuch zum Check der Sicherheitslage. Auf die Frage, wieso man dafür dort essen müsse, befand Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, er sei eh nicht so für asiatische Häppchen, Rinderbraten sei ihm lieber.

Man kann gegen deutsche Köche im Zweifel so einiges vorbringen, aber eine Politik, die sich erst bei ihnen satt isst und sie dann öffentlich schlechtredet, haben sie nicht verdient.

"Im Ausland erweist man uns Respekt, zu Hause legt man keinen Wert auf unsere Leistung", fasst Berlins höchstbewerteter Koch Tim Raue die Situation zusammen. Natürlich gehen einige Leute gut essen, aber eine Kultur, die das Ganze trägt, so wie ein sportbegeistertes Publikum die Olympischen Spiele, gebe es nicht; weder in der Politik noch in den Unternehmen. Drei-Sterne-Koch Thomas Bühner gesteht, dass er auf Reisen ins Ausland neidisch registriere, "wie selbstverständlich Firmen dort Gourmetveranstaltungen sponsern". Und Joachim Wissler, dessen Restaurant "Vendôme" zu den besten der Welt zählt und verlässlich internationale Gäste ins hässliche Bergisch-Gladbach spült, stellte trocken fest: "Der Gemeinde sind wir nicht mal ein Hinweisschild wert."

Keiner erwartet übrigens, dass die Nation sich ständig zum Fünf-Gang-Menü trifft. Aber vielleicht bemerkt die Politik ja irgendwann, dass andere Länder gut gemachte Spitzenküche längst als Botschafterin der Nachhaltigkeit werten. Weil Topköche kleine Produzenten fördern, vergleichsweise wenig Abfälle produzieren und Gästen zeigen, was wie schmecken kann, was am Herd möglich ist oder was Qualität kosten muss. Genuss als Bildungsprogramm - das wäre dann auch eine originär deutsche Herangehensweise.

Olivenöl, das billiger ist als das Öl fürs Auto

Bis dahin aber gedeiht die Schizophrenie der Billigkultur. Trotz Biowelle und Debatten über Qualität und Gesundheit, die im erschreckend kleinen Kreis geführt werden. Das beunruhigend reale, weil statistisch gestützte Klischee zeichnet weiter folgendes Bild: Der Deutsche lässt sich seine Küche so viel kosten wie keiner sonst in Europa (im Schnitt 6200 Euro). Darin verkocht er ein Olivenöl, das billiger ist als das Öl für den Motor seines Autos. Bei Stiftung Warentest liest er dann, wie mies das Öl gepanscht war, um sich nun am Stammtisch über Lebensmittelskandale zu ereifern. Reiches Deutschland, Arme-Leute-Essen.

Nur manchmal siegt dann doch die Neugier. Wie vor zwei Jahren, als das Kanzleramt Tim Raue überraschend bat, das Menü für den Besuch von Barack Obama auszurichten. Kleine Einschränkung: Das Protokoll verlangte Königsberger Klopse.

Nun ist gegen Klopse nichts einzuwenden, schon gar nicht gegen die von Tim Raue. Der Termin war "wie ein Sechser im Lotto", schwärmt er, "seitdem wollten Tausende bei uns die Obama-Klopse."

Andererseits: Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Ausnahmekoch beim Staatsbankett mal hätte zeigen dürfen, was er kann. Am Ende wären die Leute noch auf den Geschmack gekommen.

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