Designer-Ausbildung:Sie wollen mehr als nur Kleidung produzieren

Prof Heike Selmer weißensee kunsthochschule berlin

Der Austausch zwischen Kunst und Mode weitet den Blick, sagt die Designprofessorin Heike Selmer.

(Foto: Urban Zintel)

Die Weißensee Kunsthochschule gilt als Kaderschmiede für junge Designer. Doch wie bereitet man Fashion-Schüler auf die Wirklichkeit vor?

Von Anne Goebel

So kann die Welt draußen, hinter dem Fenster, in Berlin aussehen. Knorrige alte Bäume, eine Streuobstwiese mitten in Weißensee - und das im Ex-Osten mit Straßenschneisen, Plattenbauten, Netto-Markt. Aber im Frühjahr blühen hier die Apfelbäume, "alle sitzen im Freien, manchmal spielt jemand Gitarre", sagt Heike Selmer. Das klingt so sehr nach Idylle, dass Selmer für einen Augenblick so aussieht, als könne sie es selbst nicht glauben.

Die Weißensee Kunsthochschule, an der Heike Selmer als Professorin für Modedesign unterrichtet, ist eine der renommiertesten des Landes. Die wichtigsten deutschen Newcomer haben hier ihren Abschluss gemacht, bevor sie sich auf den freien Markt wagten. Das Wort "draußen" müsste also eher bedeuten: die harte, kalte Welt des Fashionbusiness. Stattdessen geht der Blick auf herbstlich zerzauste Baumkronen. Und das Erstaunliche ist: Beides hängt miteinander zusammen, das Idyllische und die Talentschmiede.

Wer "was mit Fashion" machen will, muss sich ins Zeug legen

Circa 2000 Absolventen verlassen jedes Jahr die deutschen Modeschulen, und auch wenn "irgendwas mit Fashion" eine der diffusen Ideen ist, die Jugendliche vorübergehend für ihren Berufswunsch halten - wer die Ausbildung wirklich beginnt, muss sich schon vorher ins Zeug legen. Bei den meisten namhaften Einrichtungen, den Designschulen, Privatinstituten, Kunstakademien, heißt das: Abitur, Nachweis mehrwöchiger Praktika, mehrtägige Aufnahmeprüfung. Dazu die berüchtigte Mappe.

Das ist auch an der Weißensee Kunsthochschule so. 80 Prozent der Modestudenten sind weiblich, und Heike Selmer sagt: "Viele von ihnen brennen für die Mode." Das hört sich bei ihr unsentimental an, fast nüchtern, jedenfalls nicht nach der Aura des Genialischen, mit der die Mode gerne kokettiert.

Wenn man die Designprofessorin einen Tag lang begleitet, wie sie Hochglanzwälzer durch die Gänge schleppt, Stoffe befühlt, Entwürfe begutachtet, dann geht es genau um die Mischung aus beidem: Pragmatismus und das Brennen, die Begeisterung.

"Design ist keine Telepathie oder Zufall. In einem Unternehmen müssen Sie später erklären können, warum Ihre Sachen beim Kunden gut ankommen werden." So klingt Heike Selmer vormittags um zehn, nur einen Hauch Tadel in der Stimme, die Projektgruppe hockt noch etwas müde hinter den aufragenden Coffee-Pappbechern.

Später, die Klasse stellt erste Konzepte für eine eigene Kollektion vor, ermuntert sie eine Studentin, sich in ihren Stoff-Spielereien aus gummiertem Siebdruck ruhig ein wenig zu verlieren. "Du musst noch nicht die fertigen Entwürfe im Kopf haben."

Dann laben sich alle an einem Prachtband über Dries Van Noten, den belgischen Designstar. Irgendwann einmal sein wie Van Noten, der erfolgreich ist, ohne seine Eigenheiten aufzugeben - dieses Gefühl ist auf einmal sehr greifbar in dem Saal mit Linoleumboden, Kaffeetassen stapeln sich neben Garnrollen. Sehnsüchte wecken, das ist schließlich ein Grundmerkmal von Mode.

Mode bewegt sich immer an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz

"Wir glauben, dass es die Entwicklung von Kreativität einschränkt, wenn man bereits im Studium bei jedem Entwurf denkt: Könnte ich das Teil auch verkaufen? An welche Kundin?", sagt Heike Selmer in einer Pause. Sie trägt schmal geschnittene Hosen in Purpur zu braunen Retro-Sneakern und einen bestickten Schal.

Für die Präsentationsrunde hat sie sich Zeit genommen, die Nervosität der Studenten durch gute Laune abgefedert, mehr hinterfragt als kritisiert. Das ist ihre Methode an "der Weißensee": Einfällen und Assoziationen Freiraum lassen, Denkanstöße beisteuern. Tragbarkeit und Marktstrategien hochhalten wie einen Daueraufruf zur kühlen Kalkulation, das überlassen sie anderen Lehrplänen - aus der Vielfalt kann jeder Student den passenden Ausbildungsort wählen.

Dass sich Mode immer an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz bewegt, ist die Grundlage, auch an der Hochschule mit Obstgarten. Die Dozenten lehren Modetheorie, schulen ästhetisches Gespür, Fertigkeit im Zeichnen, Schnitt-Techniken - das ist Standard.

Ungewöhnlich sind die gemeinsamen Semester mit den Kommilitonen, die im selben Haus Malerei oder Bildhauerei studieren, die Arbeit der Modestudenten in Porzellan- oder Laser Cut-Werkstätten. "Das weitet den Blick und inspiriert unheimlich", sagt Selmer. Sie erzählt von ihrer Ausbildung am Londoner Royal College of Art, ihrer Euphorie über die Begegnung mit unbekannten Materialien. Danach kam sofort das eigene Label, vielleicht hatte ihr Tatendrang mit der Offenheit am College viel zu tun.

Die Kunsthochschule Weißensee prägt die Nachwuchs-Modeszene

Die Kunsthochschule Weißensee prägt heute die Nachwuchs-Modeszene, einige der bekanntesten jungen Labels haben hier ihre Wurzeln. Michael Sontag, Sadak, Perret Schaad, der Halb-Nigerianer Bobby Kolade, sie alle wurden bei Heike Selmer oder ihren Professoren-Kollegen ausgebildet.

Das freie Entwerfen ohne dauernde Tuchfühlung mit dem Mainstream hat ihren Karrieren nicht geschadet. Eher im Gegenteil, meint William Fan, neuer Shootingstar mit Hang zu puristischen Looks und ehemaliger Selmer-Meisterschüler. "Die Weißensee war ein Rückzugsort. Ich habe neue Facetten meiner Handschrift entdeckt", sagt Fan. Seine Kollektionen seien jetzt farbiger, weniger streng. Er erwähnt auch die Apfelbaum-Idylle. "Die Welt scheint weit weg zu sein. Das hilft, um sich auf sich selbst zu konzentrieren."

Der geschützte Raum als Erfolgsrezept für Mode, kein unbedingt naheliegender Gedanke. Andererseits kann sich dort die oft vermisste Unverwechselbarkeit in Zeiten nivellierender Instagram-Looks vielleicht am besten entfalten. Heike Selmer forciert aber genauso das Gegenteil, sie will die Modemenschen herausholen aus ihrer Nische und mit der realen Welt zusammenbringen. Unter welchen Bedingungen wird Kleidung produziert? Reicht es, einen Bogen um "Made in Bangladesh" zu machen und zu denken, ich gehöre ja zu den Guten? "Zu solchen Fragen sollte man als Designer eine informierte Meinung haben", findet sie. Also fährt man am besten dorthin, wo die Antworten liegen.

Im Rahmen ihres Projekts "Local international" lud Selmer, die für mehrere grüne Labels als Designerin gearbeitet hat, im Oktober Studenten aus Bangladesch nach Berlin ein. Danach besuchte sie mit ihrer Gruppe Billig-Textilfabriken in dem Land, sie trafen Überlebende der Rana Plaza-Katastrophe von 2013. Und es ging darum, was die Modeindustrie konkret verändern kann. Durch Kooperationen mit örtlichen Produzenten zum Beispiel, damit die ihre Stoffe wie bestickte Baumwolle nicht an zweifelhafte Fabriken verhökern, sondern westliche Firmen beliefern können. "In solchen Projekten sehe ich ein enormes Potenzial. Mode als Beruf heißt mehr, als nur Kleidung zu produzieren."

Es ist Zeit für den nächsten Termin, Abschlussrunde in der Entwurfsklasse. Heike Selmer greift nach einem edel aufgemachten Maison Margiela-Bildband. Französische Luxus-Couture, Nachhaltigkeit, Green Fashion - das geht alles zusammen? "Natürlich geht das", sagt sie. "So groß ist die Mode."

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