Dem Rätsel auf der Spur:Grab des Advokaten

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Mit dem Versuch, den Sarg von Sir George Mackenzie zu öffnen, fing alles an. Das war in einer Dezembernacht des Jahres 1998. Seither scheint es auf dem Friedhof Greyfriars Kirkyard, einer Schauerkulisse wie aus dem Bilderbuch, zu spuken. Wirklich?

Von Carolin Werthmann

Der Greyfriars Kirkyard in Edinburgh ist ein Friedhof, auf dem nie die Stille herrschte, die man von einem Ort wie diesem erwarten würde. Touristen kommen jeden Tag, und man kann es ihnen nicht verdenken. Denn dieser Friedhof ist eine mit Legenden aufgeladene Zeitkapsel aus der frühen Neuzeit - genau wie die schottische Hauptstadt, in deren Herzen er sich befindet. Mit seinen dunklen, schiefen und verwitterten Grabsteinen und Inschriften, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, ist der Greyfriars Kirkyard eine Schauerkulisse wie aus dem Bilderbuch. Um die letzte Jahrtausendwende ereigneten sich hier Begebenheiten, die man leichthin als lächerliche Spukgeschichten abtun könnte, den lokalen und internationalen Medien aber eigentümlich genug erschienen, um darüber zu berichten. Presseinteresse und Mundpropaganda verliehen dem Friedhof seine Aura des Abwegigen. Berechtigt?

Eine Dezembernacht im Jahr 1998. Ein Obdachloser sucht im Regen nach Unterschlupf auf dem Greyfriars Kirkyard. Er bricht in ein Mausoleum ein und stößt auf den Sarg von Sir George Mackenzie, dem 1691 verstorbenen obersten Staatsanwalt von König Charles II. Als er den Sarg öffnen will, stolpert der Obdachlose rückwärts durch ein Loch im Boden in die Knochen und Gerippe verwester Pestopfer. Der Heimatlose flüchtet aus dem Mausoleum, entflieht dem Kirchhof und ahnt nicht, dass er fortan als derjenige beschrieben würde, der den Geist George Mackenzies weckte. Denn seit jener Nacht berichteten Friedhofsbesucher und Touristenführer von unheimlichen Geschehnissen. Von unerklärlicher Kälte, die sich nahe Mackenzies Mausoleum bemerkbar mache und von einem eigenartigen Geruch, der aus dieser Richtung komme. Manche Besucher entdeckten wenige Tage später Blutergüsse auf der Haut, ohne sich an physische Kollisionen zu erinnern. Andere wurden vor Ort ohnmächtig. Zeitungen zitierten Touristenführer, internationale Fernsehsender suchten Betroffene für Mystery-Shows. Es kursierten Fotos von Prellungen und Kratzern, deren Ursprung fragwürdig blieb.

Ausführlich geschildert hat diese Ereignisse Jan-Andrew Henderson in seinem Buch "The Ghost that Haunted Itself", das im Jahr 2001 erschienen ist. Henderson war damals Touristenführer in Edinburgh und ist es, obwohl inzwischen sesshaft in Australien und Autor von Beruf, zum Teil heute noch. Sein Buch ist eine Ansammlung von Zeugenberichten und eigenen Erfahrungen. Würde er sein Material nicht so rhetorisch aufplustern, wäre es das wohl dichteste Konglomerat an Quellen, die zu den Begebenheiten auf dem Greyfriars Kirkyard existieren. Die wenigen bemerkenswerten Passagen sind jene, in denen Henderson sachlich Schnipsel der schottischen Geschichte aufarbeitet und versucht, die Unheimlichkeiten des Friedhofs mit spirituellen, religiösen, aber eben auch wissenschaftlichen Erklärungsansätzen in Verbindung zu bringen.

Advokat George Mackenzie war ein grausamer Mann. Um 1680 verfolgte er die Covenanters, eine schottische Gruppierung, die Jahre zuvor in einem Treueid geschworen hatte, am Presbyterianismus festzuhalten, und sich dem nun unter König Charles II. wiedererstarkten Episkopat der Monarchie widersetzte. Reformgewillte bestrafte George "bloody" Mackenzie mit Gefangenschaft und Folter. Widerständler ließ er auf eine Fläche des Greyfriars Kirkyards sperren, die seitdem den Namen Covenanters' Prison trägt. Heute gelangt man nur mit einer Führung auf die andere Seite. Ironischerweise wurde Mackenzie nach seinem Tod nur wenige Meter vom Ort seines Verbrechens beigesetzt.

"Exorzist stirbt bei Kontaktversuch mit Toten." Das titelte am 29. Januar 2000 das britische Boulevardblatt Daily Express. Presse und Öffentlichkeit arbeiteten sich sensationslüstern an dem vermeintlich verfluchten Friedhof ab. Tatsächlich hatte ein Mann namens Colin Grant versucht, ausgerüstet mit Kerzen, Bibel und Kreuz, die bösen Geister des Kirchhofs zu vertreiben. Er beendete seine Maßnahmen jedoch mit den Worten, er fürchte um sein Leben und fühle sich umzingelt von unheilvollen Seelen, die ihm seine ganze Kraft raubten. Ein paar Wochen später fand man Grant tot auf. Herzinfarkt.

Nun ist das Greyfriars-Mysterium keineswegs der einzige Fall dokumentierter paranormaler Aktivitäten auf der Welt. Viele solcher Geschichten wurden als Schwindel entlarvt. Was Edinburgh aber von anderen Legenden unterscheidet: Ähnliche Erfahrungen häuften sich, ohne dass sich die betroffenen Personen kannten. Entweder hatten doch ein paar Leute aus Jux ein Komplott aus Lügen und Spinnerei aus dem Boden gestampft. Oder es gilt auch hier die parapsychologische Theorie Nandor Fodors, die besagt: Der Glaube all dieser Menschen an einen Poltergeist ist die Manifestation unbewusster Traumata, unterdrückter Ängste und Spannungen. Ernsthaft verfolgt hat den Fall George Mackenzie in den vergangenen Jahren keiner mehr, Berichte über Kratzspuren und Prellungen sind ausgeblieben. Der Friedhof zieht dennoch zuverlässig Edinburgh-Touristen an. Nicht allein wegen Mackenzie. Auf dem Greyfriars Kirkyard fand "Harry Potter"-Autorin J. K. Rowling Inspiration für ihren Bösewicht Lord Voldemort und die Figur der Professorin McGonagall. Im 19. Jahrhundert soll Mary Shelley während ihrer Flitterwochen über den Friedhof flaniert sein, von Leichenausgrabungen für medizinische Zwecke gehört und dann ihren Roman "Frankenstein" geschrieben haben. Sich diesen Ort ohne seine sonderbare Geschichte vorzustellen, ist gar nicht möglich. Ein gewöhnlicher Friedhof war er nie.

© SZ vom 02.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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