Dem Geheimnis auf der Spur:Von Mayas und Cyberpunks

File illustration of a projection of binary code around the shadow of a man holding a laptop computer in an office in Warsaw

Die virtuelle Schnitzeljagd führt von einer codierten Nachricht zur anderen.

(Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Die Rätsel der Cicada: Eine anonyme Organisation verbirgt Denkaufgaben im Internet. Steckt die CIA oder NSA dahinter?

Von Nicolas Freund

A m 4. Januar 2012 erscheint eine ungewöhnliche Nachricht in dem berüchtigten Online-Forum 4chan: "Hallo. Wir sind auf der Suche nach hochintelligenten Individuen. Um sie zu finden, haben wir einen Test entworfen. In diesem Bild ist eine Nachricht versteckt. Finde sie und sie wird dich auf den Pfad bringen, der zu uns führt. Wir freuen uns darauf, die wenigen zu treffen, die es ganz bis zum Ende schaffen. Viel Glück." Unterschrieben ist die Nachricht nur mit "3301".

Sofort beginnt rund um den Globus eine digitale Schnitzeljagd, im Forum halten die Rätselnden einander auf dem Laufenden. Vielen ist klar, dass die Nachricht nicht als Code in dem Text versteckt ist. Inhalte lassen sich im Internet anders besser verbergen. Beispielsweise in einer Bilddatei. Terrorgruppen sollen so über scheinbar harmlose Bilder miteinander kommunizieren.

Und tatsächlich: Öffnet man das Bild aus dem 4chan-Forum mit einem einfach Texteditor erscheint eine neue Nachricht: "TIBERIVS CLAVDIVS CAESAR says 'lxxt>33m2mqkyv2gsq3q=w]O2ntk.'". Ein neues Rätsel. Allerdings kein schweres. Der Name "Caesar" weist, wie viele der Hobby-Kryptologen in der Online-Community wissen, auf eine einfache Textverschlüsselung mit dem selben Namen hin, bei der die Buchstaben durch eine festgelegte Verschiebung im Alphabet ersetzt werden. Die so decodierte Nachricht offenbart eine Internetadresse, unter der aber nur das Bild von einer Ente zu sehen ist mit dem Hinweis, hier fänden sich nur falsche Fährten.

Manche Hinweise finden sich als QR-Codes auf Plakaten in Paris, Warschau und Seoul

Aber genau dieser Hinweis ist die richtige Spur. Denn auch dieses Bild enthält wieder Metadaten. Die Internetgemeinde braucht keinen Tag, um das Programm zu finden, mit dem sie sichtbar gemacht werden können. Die Jagd geht weiter und was als cleveres Rätselraten begann, nimmt bald bizarre Züge an.

Die folgenden Stationen bestehen aus dem verschlüsselten Text der mittelalterlichen Romanze "Die Frau vom Brunnen", einer Reihe von Maya-Zahlen und einem Gedicht des Cyberpunk-Autors William Gibson, das 1992 auf einer Diskette veröffentlicht wurde, die sich nach einmaligem Lesen selbst formatiert. Wer noch weiter forscht, landet bei einer texanische Telefonnummer, unter der eine automatische Ansage den Anrufer auffordert, die weiteren Primzahlen neben 3301 in dem ursprünglichen Bild herauszufinden.

Mit diesen Daten werden GPS-Koordinaten auf der ganzen Welt freigeschaltet - in den USA, aber auch in Paris, Warschau und Seoul. Dort verbergen sich die nächsten Hinweise - als QR-Codes auf Plakaten. Immer wieder taucht zwischendurch das Bild einer Zikade auf, Englisch Cicada.

Zu diesem Zeitpunkt sind nicht mehr Tausende, sondern nur noch eine Handvoll Besessene dem Geheimnis dieser Interneträtsel auf der Spur. So mysteriös wie die immer komplizierter werdenden Aufgaben ist auch die Identität von 3301 oder, wie die Organisation bald genannt wird, "Cicada 3301". Wer sollte sich die Mühe machen, diese Rätsel voller Anspielungen aus Informatik, Kultur, Mathematik und Kryptografie zu entwerfen und dazu noch Hinweise auf der ganzen Welt zu verstecken? Für einen Scherz sind die Aufgaben zu aufwendig. Im ersten Text hieß es, die Organisation suche nach "hochintelligenten Individuen". Könnte die virtuelle Schnitzeljagd ein Einstellungstest sein? Google soll schon einmal mit ähnlichen Methoden auf Mitarbeitersuche gegangen sein. Viele der obskuren Rätsel scheinen aber nicht richtig zu dem Internetriesen zu passen.

In den Foren vermutet man eher eine militärische Organisation oder einen Geheimdienst hinter den Denkaufgaben. Am ehesten die NSA oder die CIA. Das wäre natürlich viel spannender als Google. Manche vermuten auch, es weder mit einer Firma, noch einer staatlichen Organisation, sondern mit einer kriminellen Hackergruppe zu tun zu haben.

Gelöst wurde das Rätsel hinter Cicada 3301 bis heute nicht. Auch in den Jahren 2013, 2014 und 2016 wurden bei Twitter unter dem Account @1231507051321 weitere Schnitzeljagden gestartet, allerdings änderte sich der Ton der Botschaften immer mehr ins Okkulte und Mystische. Die "Offenbarung findet die Hingebungsvollen" heißt es etwa in einer Nachricht. Eine neue Theorie macht die Runde: Bei Cicada 3301 könnte es sich auch um einen wirren Kult handeln.

Vergangenes Jahr veröffentlichte der amerikanische Rolling Stone eine Geschichte, die erahnen lässt, welchen Sinn die Rätselketten haben könnten. Der Informatik-Student Marcus Wanner erzählte, er habe mit einer internationalen Gruppe alle Aufgaben der ersten Runde gelöst und Zugang zu einem geheimen Chatroom bekommen. Wer oder was Cicada 3301 genau ist, erfuhren sie auch dort nicht. Nur, dass es sich um eine unabhängige internationale Organisation handle, die sich für Datensicherheit und Informationsfreiheit einsetzt.

Wanner habe mit einigen anderen den Auftrag bekommen, eine Software zu entwickeln, die es Whistleblowern ermöglichen soll, ihre Dokumente nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne automatisch zu veröffentlichen, um so im Falle einer Verhaftung ein Druckmittel zu haben.

Die technisch versierte Gruppe beginnt mit dem Programmieren, aber schon bald kommen die Arbeiten ins Stocken, einzelne Helfer springen ab, und der Student bittet in dem Chatroom um Mithilfe. Inzwischen läuft die zweite Rekrutierungsrunde, aber Wanner kommt nie in Kontakt mit einem neuen Mitglied der seltsamen Gruppe. Wenig später ist der geheime Chatroom verschwunden und Wanner hat nie wieder von Cicada 3301 gehört.

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