Dem Geheimnis auf der Spur:Schärfste Selbstkritik

THE SCRIPT THE NOVEL 'JOURNEY TO THE END OF THE NIGHT' BY LOUIS-FERDINAND CELINE

Das Original-Manuskript des Buches wurde erst im Jahr 2000 wiedergefunden.

(Foto: Paris Match via Getty Images)

Wieso attackierte der Journalist Isak Grünberg seine eigene Übersetzung von Louis-Ferdinand Célines berühmten Roman "Reise ans Ende der Nacht"?

Von Rudolf von Bitter

Dies ist die so kuriose wie komplizierte Geschichte eines berühmten französischen Romans und seiner ersten Übersetzung ins Deutsche. Kurios deshalb, weil der Übersetzer Isak Grünberg seine Arbeit bald nach dem Erscheinen selbst öffentlich schmähte. Der publizierende Verlag habe sie verstümmelt. Das geschah in den Dreißigerjahren. Als 2005 der Nachlass Grünbergs entdeckt wurde, bekam der Fall eine überraschende Wendung, die aber die Spekulationen über die Motive für Grünbergs Selbstschmähung eher noch angeheizt haben.

Kaum ein Schriftsteller hat die literarische Welt Frankreichs so polarisiert wie Louis Ferdinand Céline (1894-1961), eine Art Houellebecq der Dreißigerjahre. Mit seinem episodisch angelegten Roman "Reise ans Ende der Nacht", in dem von den Erlebnissen des Ferdinand Bardamu im Ersten Weltkrieg genauso ungeschminkt erzählt wird wie von dessen sexuellen Abenteuern, schuf Céline ein Vorbild für ganze Schriftstellergenerationen. Doch bald schon verfasste Céline antisemitische Pamphlete und sympathisierte mit den Nazis. Dennoch galt die "Reise" als Roman eines Linken, den die Nazis verboten.

Erster Akt: Die deutsche Übersetzung hatte Isak Grünberg (1897-1953) besorgt, der aus Paris für das Berliner Tageblatt berichtete. Grünbergs Fassung erschien Ende 1933 in Mährisch-Ostrau beim Verlag Julius Kittl. 1934 jedoch attackierte Grünberg seine eigene Arbeit: "Gegen die deutsche Übersetzung von Célines ,Voyage au bout de la nuit', vom Übersetzer", veröffentlicht in der Exil-Zeitschrift von Thomas Manns Sohn Klaus, Die Sammlung. In dieser Polemik erwähnte Grünberg auch, dass ursprünglich der Münchner Piper-Verlag das Buch habe veröffentlichen wollen. Aber der Piper-Verlag, so Grünberg in seiner Polemik, habe seine "Übersetzungsprobe in lächerlicher Weise beanstandet", um sich so aus dem Vertrag zu stehlen, in dem er als Übersetzer prozentual am Verkauf des Buches beteiligt gewesen wäre. Grünberg erklärte, dass er aus materiellen Gründen nicht "gegen den mächtigen Piper-Verlag in München einen Prozess" hätte durchführen können. Aber auch den Kittl-Verlag, der doch seine Version gedruckt und herausgebracht hatte, griff er an: "Die Missgeburt, die der Verlag Kittl erzeugt hat, muss abgelehnt werden."

1958 erschien Célines Roman bei Rowohlt erneut, dabei war Grünbergs Übersetzung leicht überarbeitet worden, sein Name aber wurde nicht einmal mehr erwähnt. Und seine Eigenpolemik war sowieso vergessen. Erst Hans-Albert Walter machte die Céline-Kenner in den Siebzigerjahren auf sie aufmerksam, seither stand Grünbergs Übersetzung im gesicherten Ruf, verfälscht und verkürzt zu sein. Doch eine Original-Übersetzung, auf die sich Grünberg in seiner Polemik ja bezog, kannte niemand. Den Verlagswechsel von Piper zu Kittl erklärte man sich nun mit einem befürchteten Eingreifen der NS-Zensur, galt Céline doch 1933 noch als Pazifist und Linker. Und Grünbergs Protest-Artikel las man als tapferen Angriff auf die Verlage Piper und Kittl.

Zweiter Akt: 2005 fand sich in der Nähe von Edinburgh Isak Grünbergs Nachlass. Darin steckte auch seine Korrespondenz mit dem Kittl-Verlag. Da stellte sich überraschend heraus, dass Grünberg mit genau diesem von ihm attackierten Verlag eng und zuverlässig weiter gearbeitet hatte! So hatte er für den Kittl-Verlag auch Célines zweiten Roman "Tod auf Borg", heute "Tod auf Kredit", übersetzt. Und er bot bei Kittl Buchrechte an, bat um Vermittlungen, kurz, er hatte Vertrauen in diesen Verlag und warnte auch vor Célines erstem antisemitischen Pamphlet: "Jetzt muss ich mich beinahe schämen, dass ich Céline-Übersetzer ,war'. Ein komischer Effekt wäre allerdings, wenn Céline durch dieses Buch (das antisemitische Pamphlet) in Deutschland wieder in Gnaden aufgenommen und seine früheren Bücher freigegeben werden."

Nach dem Nachlassfund wird Grünbergs Polemik in Klaus Manns Die Sammlung noch rätselhafter: Wollte er damit seinen Ruf als Übersetzer wahren? Oder, noch vertrackter, wollte er mit dem Angriff auf den Kittl-Verlag als Verfälscher das Ansehen Kittls bei den Nazis verbessern? Das hätte vielleicht den Verkauf von Célines Büchern gesteigert, mit positiven finanziellen Effekten für ihn selbst.

Grünberg hat, wie aus dem Nachlass hervorgeht, alles daran gesetzt, um seine Übersetzerehre zu retten: Vom befreundeten Joseph Roth ließ er sich bestätigen, er habe vortrefflich übertragen. Diese Bestätigung sollte im Prozess gegen den Piper-Verlag helfen. Doch der Prozess kam nicht zustande. Robert Freund, der Kompagnon von Verleger Reinhard Piper, war ja im Brief an Grünberg ziemlich deutlich geworden: "Ich habe Ihre Probeübersetzung sorgfältigst durchgesehen . . . Ich habe den Eindruck, dass Sie die deutsche Sprache nicht in dem Maße beherrschen, wie es für einen Übersetzer unerlässlich ist."

Diese Probeübersetzung fand sich auch im Nachlass und ist so schlecht nicht: Denn die dann bei Kittl erschienene Übersetzung ist bis auf banale Lektoratskorrekturen mit dieser angeblich verfälschten Urversion so gut wie identisch!

Bis zum Fund des Nachlasses 2005 bewirkte Grünbergs Schmähung von 1934 eine Täuschung: Der Piper-Verlag habe seinem Übersetzer die Rechte beschneiden wollen, der Kittl-Verlag habe eine grobe Verfälschung verlegt. Haben vielleicht Grünberg und der Kittl-Verlag aus unerfindlichen Gründen gemeinsam geschwindelt, mit Joseph Roth und Klaus Mann als ahnungslosen Helfern? Dann hätten sie die deutsche Céline-Forschung jahrzehntelang genarrt. Aber auch diese Annahme löst nicht das Rätsel, was Grünberg zu seiner Polemik motiviert haben mag.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: