Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Flügelwesen

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Einst waren Sphingen vorwiegend männliche Wächterfiguren oder Schutzdämonen. Erst im Laufe der Zeit wurden sie weiblich und noch dazu immer mysteriöser. Bis heute lassen die geflügelten Wesen viele Fragen offen.

Von Josef Schnelle

Die Wandlung geschah offenbar im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Im alten Ägypten war der Sphinx, sprachlich männlichen Geschlechts, noch eine stolze Wächterfigur in Herrscherpose. Auch bei Hethitern, Assyrern und Babyloniern waren Sphingen oft geflügelte Schutzdämonen. Es gab auch weibliche darunter. Über die minoische Kultur bis in kleinste Schmuck- und Alltagsgegenstände vorgedrungen, gelangte der Kult um die Rätselfigur, nun als Dämonin der Zerstörung und des Unheils, in die griechische Mythologie. Nur der schlaue Ödipus ist ihr gewachsen, wenn sie in der Volkslegende oder bei Sophokles doppelbödige Fragen stellt wie: "Wer sind die beiden Schwestern, die sich gegenseitig erzeugen?"

Nun ist die Sphinx vollständig weiblich wie beim symbolistischen Maler Gustave Moreau im 19. Jahrhundert, wo sie als Flügelwesen sich lustvoll an Ödipus festkrallt. Die Antwort auf die Rätselfrage gibt's erst ganz zum Schluss.

Wohl 100 Steinmetze haben den großen Sphinx von Gizeh aus dem Stein gehauen

Das Rätselhafte des großen Sphinx vor der Pyramide von Gizeh konzentriert sich vor allem auf die Baugeschichte sowie den verborgenen Sinn und Zweck des 20 Meter hohen Standbilds, eines der größten des Altertums, das von hundert Steinmetzen in drei Jahren (so heutige Schätzungen von Ägyptologen) in einem Stück aus dem Kalkstein herausgehauen worden ist, während gleichzeitig um 2500 vor Christus die Pyramiden der Pharaonen Cheops und Chephren direkt dahinter gebaut wurden. Manche Wissenschaftler nehmen an, dass nicht Chephren, dem der Sphinx wie aus dem Gesicht geschnitten scheint, sondern schon Cheops der Bauherr war. Und in esoterischen Kreisen erfindet man eine ganz eigene Zivilisation rund 7000 Jahre früher, da die Verwitterungsspuren am Körper des Monuments von Regenfällen anstelle von Wüstenwind herrühren könnten, die es dort vielleicht vor rund 10 000 Jahren gab. Außerdem ist der Kopf proportional zu klein, es versteckt sich kein außerirdischer Schädel darunter, wie manch einer meint. Geheimnisvolle Höhlen wurden ebenfalls keine unter dem Sphinx entdeckt, und der vermutete Alabasterboden des kleinen Tempelchens davor existiert auch nicht mehr.

Noch in ägyptischer Zeit gab es eine erste "Restaurierung" des in einer Kuhle sitzenden, immer wieder vom Sand zugewehten Artefaktes. Pharao Thutmosis IV. aus der 18. Dynastie im Neuen Reich berichtet auf der sogenannten Traumstele zwischen den Pranken des Sphinx von einem Traumerlebnis, bei dem Sonnengott Re ihm sagte, er solle den Sphinx ausgraben und restaurieren. Dafür werde er dann König werden, was bis dahin unwahrscheinlich war.

Später haben auch die Kaiser Marc Aurel und Septimius Severus die Figur vom Sand befreien lassen. Von Émile Baraize, dem französischen Ingenieur, der sie 1926 bis zum Steinsockel freilegte, sind Traumprophezeiungen nicht bekannt. 1936 musste sie wieder ausgegraben werden. Die Nase war da längst weg. Im 13. Jahrhundert wurde ihre Schönheit zuletzt erwähnt. Nicht etwa von Obelix' Lieblingshund Idefix oder Napoleons Artillerie wurde sie abgebrochen, sondern wohl 1378 vom strenggläubigen Scheich eines Sufi-Klosters, Mohammed Saim el-Dahr, dem der naive Kult der Bevölkerung um die Statue offenbar wenig behagte.

Der beeindruckenden Präsenz der Statue vor der unübertrefflichen Bühne der Pyramiden kann man sich auch heute nicht entziehen, über den Kult in antiker Zeit kann man keine Mutmaßungen anstellen, es gibt keinerlei Schriftzeugnisse dazu. Mit sanftem Lächeln bewahrt der große Sphinx sein Geheimnis, dem man wohl anderswo nachspüren muss.

Als gnadenloser Würgeengel taucht die Figur erst bei Sophokles auf

Sphingen spielten als Großplastiken und Kultgegenstände auch bei Hethitern und Phöniziern eine bedeutende Rolle, bis sie dann in der griechischen Sagenwelt wieder auftauchten - als ausschließlich weibliche Figur, als Schwester der Hydra und anderer dubioser Ungeheuer. Die Sphinx stellt Rätsel und frisst jene, die bei der Lösung versagen. Im griechischen Volksglauben dachte man sich die Rätsel, welche die Sphinx von den Musen erlernt haben soll, als mit verführerischem Gestus gesungen. Angeblich versammelten sich die Thebaner alltäglich, um gemeinsam über neue Unglücksrätsel zu beraten. Rätseldichtung war allgemein in Griechenland beliebt.

Aber als gnadenloser schwarzer Würgeengel taucht die Sphinx erst bei Sophokles auf. Zwar gelingt es Ödipus die entscheidende Frage nach dem Wesen, das morgens auf vier Beinen, mittags zweifüßig, am Abend mit dreien unterwegs sei, richtig zu beantworten: als Kleinkind auf allen Vieren, erwachsen auf zwei Beinen und im Alter mit Stock als drittem Bein - der Mensch. Der französische Schriftsteller André Gide hat einmal geschrieben, egal was mich die Sphinx gefragt hätte, ich hätte immer gesagt: der Mensch. Aber vielleicht hat Ödipus, sagen manche, nur zufällig auf sich selbst gezeigt. Und obwohl sich die Sphinx pflichtschuldigst in den Abgrund stürzte, gab es am Ende keinen Gewinner. Denn Ödipus hatte die Wahrheit über seine Herkunft nicht erkannt, deshalb tötete er seinen Vater und heiratete die Mutter. Dem Schicksal entkommt man eben nicht.

Um das erste Sphinx-Rätsel zu lösen: Die Schwestern, die einander wechselseitig gebären, sind Tag und Nacht - griechisch beide mit weiblichem Genus. Die eine gebiert immer wieder die andere, ein ewiger Kreislauf.

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SZ vom 17.08.2019
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