Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Ein Mann, ein Ort

Lesezeit: 3 min

Mit seinen Ideen veränderte der Philosoph Immanuel Kant die Welt, aber seine Heimatstadt Königsberg verließ er so gut wie nie. Bis heute bleibt es ein Rätsel, wieso es der große Denker vorzog, sein ganzes Leben an einem einzigen Ort zu verbringen.

Von Florian Goldmann

Seine Gedanken "Zum ewigen Frieden" haben die moderne Charta der Vereinten Nationen maßgeblich geprägt. Überall auf der Welt berufen sich Denker auf den Philosophen, doch Immanuel Kant ist sein ganzes Leben lang in keine fremden Länder gereist. Der Philosoph hat sogar seine Geburtsstadt Königsberg - das heutige Kaliningrad - in Ostpreußen so gut wie nie verlassen. Auch wenn er im 18. Jahrhundert gelebt hat, ist das fast unbegreiflich, denn andere Gelehrte aus dieser Zeit kamen viel herum.

Seine Widersacher hätten gerne von Angesicht zu Angesicht mit ihm diskutiert

Johann Wolfgang von Goethe etwa schätzte das Reisen. Für ihn war es selbstverständlich, seinen Horizont auch geografisch nach allen Seiten hin zu öffnen. In seinem Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" heißt es in einem Brief an die Hauptfigur: "Jetzt lebe wohl, genieße das Leben auf der Reise und ziehe hin, wo du es vergnüglich und nützlich findest . . . denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen." Viele Zeitgenossen Kants müssen so gedacht haben. Verglichen mit Philosophen, Komponisten und Literaten gleichen Ranges erscheint Kants Reiseverdrossenheit erst recht bizarr: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Württemberger in Jena, siedelte später nach Berlin um, Wolfgang Amadé Mozart zog nicht einmal zehnjährig mit seiner Familie durch halb Europa, Goethe brach für zwei Jahre nach Italien auf. Getrieben von Neugier suchten sie von Zeit zu Zeit das Weite - und fanden Austausch, Anregung, Arbeit. Warum reizte Kant das nicht?

Immerhin, zeitweilig kehrte Kant seiner Heimatstadt den Rücken: Zwischen Philosophiestudium und Karrierebeginn boten sich ihm in Königsberg nur geringe Chancen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Auch zwangen ihn nach dem Tod des Vaters keine Familienangelegenheiten dazu, daheim zu bleiben. Aber selbst dann kam er nicht weit: Sechs Jahre lang wanderte er als Hauslehrer durch die ostpreußische Provinz. In Judtschen, Arnsdorf und Rautenburg schulte er Kinder aus Gutsfamilien.

Als Dreißigjähriger kehrte er nach Königsberg zurück und setzte fortan so gut wie keinen Fuß mehr vor die Stadt. Es waren ausgerechnet die Jahre, in denen er mit seinen Schriften den ganzen Kontinent eroberte, indem er das philosophische Denken über Gott und die Welt radikal veränderte und verbreitete Theorien souverän zerpflückte. 1781 entzündete er sein Geistesfeuerwerk "Kritik der reinen Vernunft". An den Auswirkungen hatten die Europäer schwer zu kauen. Gott galt von da an zwar noch nicht als tot, wie Friedrich Nietzsche später feststellte, aber als unbeweisbar - als eine bloße Idee, ein Ding allein noch für den Glauben, doch für keine Wissenschaft mehr. Man sprach von Kant daher als vom "Alleszermalmer", die einen voll Ehrfurcht, die anderen voll Abscheu. Unerbittlich reagierten Kirche und Preußische Zensurbehörde.

Kants Werk trat groß und schonungslos auf. Für Widersacher wäre es wünschenswert gewesen, von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu diskutieren - ohne die "kometenhafte" Verspätung, mit der Neuerscheinungen in Königsberg damals ankamen, wie ein Zeitgenosse stöhnte. Doch die "Revolution der Denkungsart" erschien ihnen nur in Papierform. Kants Geist wehte in alle Richtungen, sein Körper aber bliebt zu Hause. Wie viel Reisefreiheit nimmt sich manch moderner Philosoph, der für weit schmalere Gedankengänge um den Globus jettet! Gewiss, das tage- oder wochenlange Reisen in den Kutschen war damals ungleich strapaziöser. Kant, seit je ein schmächtiges Männlein, mochte das im Alter wohl nicht mehr tun.

Warum er seine Schlüsse aus dem menschlichen Dasein gerade in der Abgeschiedenheit des "gelehrten Sibirien" Königsberg zog, erhellen nur Indizien. Es gibt keine biografischen Lücken, die mit plötzlich entdeckten Dokumenten gefüllt werden könnten. So fand er das Staunen als Triebfeder stets bei sich selbst. Jene zwei Dinge, die ihn, wie er schrieb, "mit immer neuer und zunehmender Bewunderung" erfüllten, waren stets anwesend: "der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir". Ihretwegen musste er nicht nach Berlin fahren, wo ihn Bewunderer gerne gesehen hätten, oder nach Halle und Erlangen auswandern, wo Universitäten mit Lehrstühlen, Prestige und üppigen Gehältern lockten.

Die Verleger hingegen saßen auswärts, in Riga oder Berlin. Seine berühmte Antwort auf die Frage, was denn Aufklärung sei - "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" - publizierte er in der Berlinischen Monatsschrift.

Königsberg bot alles, was er brauchte. 1770 erhielt er dort nach mehreren Bewerbungen endlich die Professur für Metaphysik und Logik. Sechs Jahre später wurde er Dekan der Philosophischen Fakultät. Freundschaften zu Schriftstellern und Wissenschaftlern banden ihn früh ins geistige und soziale Leben der Stadt ein. In seinem Haus versammelte er sie zahlreich, Kant galt als ausgesprochen gesellig und charmant. Joseph Green, ein englischer Kaufmann und enger Vertrauter, öffnete ihm andere Welten. Kant sei innerlich nun "beständig in Engelland", wie ein Zeitgenosse schilderte, denn mit Green unterhielt er regen Briefkontakt.

Weil Königsberg zwar am Rand von Preußen, aber nicht außer Reichweite lag, wurde es viel bereist von Diplomaten, Kaufleuten, Intellektuellen. Sie erlebten dort urpreußische Kultur. Unter ihnen war der Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder, der zunächst seinen Weg als Medizinstudent suchte - und Kant fand. Durch die wachsende Berühmtheit wurde Kant, der eisern bei sich selbst Gebliebene, so selbst zur Königsberger Attraktion.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3152657
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.09.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.