Dem Geheimnis auf der Spur:Die versunkene Stadt

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Auf diesem Kupferstich von 1633 wird Vineta ("Wineta") im Meer vor der Nordwestküste Usedoms vermutet.

(Foto: Interfoto)

Seit dem Mittelalter beflügelt die Sage vom Untergang Vinetas die Fantasie der Menschen. Einige Orte an der Ostsee machen heute noch Geschäfte damit.

Von Tobias Sedlmaier

Eine bekannte Regel im Märchen lautet: Wer nicht zuhören will, wird bestraft. Dreimal prophezeite die Nixe aus dem Wasser den Bewohnern der Stadt Vineta der Sage nach den Exitus: "Vineta, Vineta, du Reiche, du wirst untergehen, denn du hast Böses getan!" Doch ihre Mahnungen blieben unbeachtet und so versank die prächtigste Handelsstadt im gesamten Ostseeraum mitsamt ihren Marmorsäulen und Goldziegeln in den strafenden Sturmfluten. Lediglich das Klagegeläut der Kirchtumglocken drang weiterhin hörbar vom Meeresboden hinauf. Vielleicht war das der Preis, den die Bewohner für ihre Überheblichkeit und Verschwendungssucht bezahlen mussten; dafür, dass sie die Löcher in den Wänden mit Brot gestopft und ihre Haustiere mit Schmuck behängt hatten. Vielleicht mussten sie auch für ihre ständige Zwietracht untereinander büßen.

Liegt der goldene Marktplatz des prächtigen "Atlantis des Nordens" begraben im Schlick?

"Vielleicht": ein beliebtes Wort, wenn man Legenden und Mythen nachspürt. Denn jedes Märchen zieht ein Dutzend neue Deutungen nach sich, steht nie für sich alleine. So auch im Fall der vor rund tausend Jahren versunkenen Stadt Vineta, die seither durch zahlreiche Volkssagen und literarische Bearbeitungen in Mittel- und Nordeuropa umherspukt. Nils Holgersson erblickt sie auf seiner Reise mit den Wildgänsen, dem österreichisch-russischen Schriftsteller Jura Soyfer diente sie als düstere Todesallegorie in seinem gleichnamigen Drama, Dichter wie Heinrich Heine, Wilhelm Müller, Erich Kästner oder Uwe Kolbe wurden von ihr inspiriert, und Karl Kraus verglich scharfzüngig das "tote" Wien mit der versunkenen Stadt. Vineta erblühte auch nach dem Absinken reichlich - in der Fantasie.

Mit der tatsächlichen Lokalisation des "Atlantis des Nordens" verhält es sich schwieriger. Historische Quellen wie etwa die des arabischen Kaufmanns Ibrahim ibn Ahmed at Tartuschi (10. Jahrhundert), des Dommagisters Adam von Bremen (ca. 1076) oder von Helmold von Bosau (11. Jahrhundert) sind umstritten. Sie erwähnen die Existenz einer großen, international vernetzten Handelsmetropole, Hinweise für eine Verortung sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Auch deswegen, weil von allen dreien keine Originalmanuskripte erhalten sind, sondern lediglich Überlieferungen und Abschriften. Somit bergen sie alle das Risiko von Nachdichtung und Verfälschung. Deutlich wird das am Namenswirrwarr, dem Vineta unterworfen ist: "Jumne", "Julin", "Immuueta" "Jomsburg" oder "Vulin" sind nur einige der mehr als ein Dutzend Bezeichnungen, die vor allem aus den unterschiedlichen Herkunftsländern und Sprachen derer resultieren, die im Mittelalter Zeugnis von der Zauberstadt ablegten.

Die ersten wissenschaftlichen Erforschungen Vinetas betrieb der Arzt und Archäologe Rudolf Virchow, ein Mentor Heinrich Schliemanns und Mitentdecker der Leukämie, Ende des 19. Jahrhunderts, als er auf der Insel Wollin (polnisch "Wolin") auf Erdhügel mit Grabbeigaben stieß. Die sogenannte Wollin-Theorie war geboren, sie sollte sich auch für viele Jahre als die hartnäckigste Lokalisierungshypothese erweisen. Verstärkt wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Grabungen von Wladislaw Filipowiak, Direktor des Nationalmuseums in Stettin. Dieser fand am Fluss Dievenow, einem der drei Mündungsarme der Oder, Reste einer Hafenanlage, die bis ins 8. Jahrhundert zurückreichen, zusammen mit Tausenden weiteren Kunstgegenständen.

Nicht nur die polnische Insel Wolin, auch das deutsche Usedom und zahlreiche Gemeinden an der Ostseeküste erheben Anspruch auf Vineta. Besonders seit Ende der Neunzigerjahre der Historiker Klaus Goldmann zusammen mit dem Publizisten Günter Wermusch die Wollin-Theorie entschieden zurückgewiesen und den Barther Bodden als Möglichkeit ins Spiel brachte, gewinnt das Rätsel wieder an Facettenreichtum. Beide Autoren legen dar, wie sich der Flussverlauf der Oder im Hochmittelalter verändert und eine Deichzerstörung ein Gebiet mit den Ausdehnungen eines ländlichen Verbundes (Vineta) im Schlamm begraben habe. Dies sei wegen falscher Ortsnamenzuordnungen und Übersetzungsfehler jedoch bislang übersehen worden. Vinetas goldener Marktplatz liegt also im Schlick?

Warum nicht, dachte sich ein emsiger Stadtverwalter und sicherte Barth prompt die Namensrechte an der Marke "Vineta" beim Deutschen Patentamt: Vinetastadt darf sich nun das mecklenburgische Städtchen nennen. Ein gleichnamiges Museum und Festtage gibt es obendrauf. Schließlich ist der Stoff, aus dem die Sagen gewoben sind, stets Anreiz für materielle Befindlichkeiten. Das sehen benachbarte Orte ähnlich: Auf Usedom werden Festspiele angerichtet, jeden Sommer vor 20 000 Zuschauern als Open Air an der Ostseebühne Zinnowitz. Zur Einstimmung findet zusätzlich am Strand das Osterspektakel statt, zu dem das Mitbringen von Kleingeld wohl angebracht wäre - schließlich soll die verfluchte Stadt eines Tages erlöst werden. Auch das ist Märchenregel: Die Bestrafung kann oft von einer unschuldigen Seele gesühnt werden.

Bei Vineta hätte das einmal fast geklappt: Ein Schäferjunge, dem die Stadt geisterhaft am Morgen des Ostersonntags in Strandnähe erschien, hätte ihren Bewohnern der Legende nach nur etwas abkaufen müssen, um sie aus ihrem aquatischen Gefängnis zu befreien. Leider hatte der Bub keinen Heller in den Hosentaschen, und so versank Vineta aufs Neue. Es kann somit Rätsel bleiben und aufs Neue gesucht werden. So lange, bis die ganze Menschheit fürs Nicht-Zuhören bestraft wird und weitere Vinetas durch den Klimawandel für immer im Meer verschwinden.

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