Dem Geheimnis auf der Spur:Der wahre Blaubart

Dem Geheimnis auf der Spur: Den Mörder in seiner Alchemistenküche, umgeben von Kinderleichen, zeigt diese Gravur aus dem 19. Jahrhundert.

Den Mörder in seiner Alchemistenküche, umgeben von Kinderleichen, zeigt diese Gravur aus dem 19. Jahrhundert.

(Foto: Leemage/imago)

Gilles de Rais, Marschall von Frankreich, Kampfgefährte der Jeanne d'Arc und einst einer der mächtigsten Männer des Landes, entpuppte sich als sadistischer Serienmörder.

Von Florian Welle

Die Faszination des Bösen ist ungebrochen. Gilles de Rais, engster Weggefährte der Jeanne d'Arc und als Marschall von Frankreich einst einer der mächtigsten Männer des Landes, hat im 15. Jahrhundert mindestens 140 Kinder getötet. Überall wo der Baron in der heutigen Region Pays de la Loire auftauchte, verschwanden hübsche Knaben zwischen 7 und 16 Jahren. Auf seinen Gütern veranstaltete er neben magischem Hokuspokus mit den von ihm aufgespießten Kinderköpfen Schönheitswettbewerbe.

Beide Motive sind dem Fernsehzuschauer aus anderem Zusammenhang bekannt. Die viel gelobten Serien "True Detective" und "Game of Thrones" bedienen sich bei der Geschichte des Kinderschänders. Hier ein Landstrich in Louisiana, dessen führende Männer in das mysteriöse Verschwinden von Kindern involviert sind. Dort ein verrückter Kindkönig in einem Fantasy-Reich, der sich an abgeschlagenen Köpfen delektiert.

Die Verbrechen von Rais dienten als Vorlage für die Legende um den Frauenmörder Blaubart

Schon früher wurde die schriftstellerische Imagination von den Taten Gilles de Raisʼ angefacht. Marquis de Sade ist natürlich zu nennen, aber auch Gustave Flaubert läuft ein wohliger Schauer über den Rücken, als er die Burg Tiffauges besichtigt, einen der Tatorte: "Hier an dieser Stelle lebte er . . . Man rief die Hölle an, man tafelte mit dem Tod, man erwürgte Kinder; man kannte furchtbare Lüste und schauerliche Freuden; alles hallte von Wollust, von Schrecken und Wahnsinn wider."

Die ausführlichste Schilderung findet sich bei Joris-Karl Huysmans. In "Tief unten" wird das blutrünstige Leben wie das reuevolle Sterben von Gilles de Rais genüsslich ausbuchstabiert. Bis zu 800 Opfer sollen es nun gewesen sein. Doch selbst diese Angabe, die in manch alter Chronik auftaucht, reicht dem Dichter nicht: ". . . diese Zahl ist ungenügend und ungenau. Ganze Gegenden wurden verwüstet."

Sicherlich liegt es an ihrer Monstrosität, dass diese Verbrechen immer noch geheimnisumwoben sind. Versatzstücke von Gilles de Raisʼ Leben gingen in die Legende des Frauenmörders Blaubart ein, und seine Untaten warfen über Jahrhunderte Fragen auf. Etwa: Wie konnte ein Einzelner so viele Morde unbemerkt begehen? Ausgerechnet der Okkultist Aleister Crowley, dem man mehr Fantasie zugetraut hätte, hielt dies für unwahrscheinlich. 1930 behauptete er, dass Gilles de Rais im Jahr 1440 vollkommen zu Unrecht zum Tode durch Erhängen verurteilt worden sei.

Die Gemüter erregte auch die Frage nach dem Charakter des Mörders: Wie kann ein Mensch so grausam sein? Und wieso wird der ehemalige Feldherr zwar von der Kirche zum Tode verurteilt, erhält anschließend aber ein Grab in einem Karmeliterkloster?

Gilles de Rais kommt 1404 auf die Welt. Es ist die Zeit des Hundertjährigen Krieges, geprägt von Gewalt, Epidemien, Hunger. Der gut aussehende Junge, dessen Eltern früh sterben, wächst beim Großvater Jean de Craon auf, einem habgierigen Brutalo. Bald erweist sich Gilles im Kampf als Draufgänger und entdeckt in der mordenden Männergesellschaft seine Homosexualität. 1429 ernennt ihn der Dauphin zum Beschützer Jeanne d'Arcs. An der Seite der Jungfrau in Männerkleidung kämpft er erfolgreich gegen die Engländer. Rais wird daher von Karl VII. zum Marschall ernannt und darf in seinem Wappen die königlichen Lilien führen.

Bis hierhin ist Gilles de Rais das Kind einer grausamen Epoche. Die Abgründe seiner Persönlichkeitsstruktur aber, die in den Worten des Historikers Philippe Reliquet "jenseits der Zeiterscheinungen" liegen, treten erst zutage, als man 1431 die von ihm über alle Maßen bewunderte Jeanne d'Arc verbrennt. Als ein Jahr später der Großvater stirbt, kennt Rais kein Halten mehr. Nun setzt ein, was Georges Bataille in einer Studie zu dem Päderasten die "Euphorie des Untergangs" genannt hat: Der Marschall kehrt dem Krieg den Rücken und frönt nur mehr dem Luxus sowie der perversen Lust. In jener Zeit verschwinden die ersten Kinder.

Gilles de Rais ist voller Widersprüche. Zum einen Ästhet, zum anderen Sadist. Einerseits ist er frommer Christ, der zur Messe geht. Andererseits beginnt er, als sein gewaltiges Vermögens zunehmend schwindet, den Teufel zu beschwören. Er ist durchtrieben, gleichzeitig von einer erschreckenden Naivität und Leichtgläubigkeit. Alchemisten und Satanisten gehen bei ihm ein und aus und ziehen ihm das letzte Geld aus der Tasche.

Die Opfer des Feldherrn sind zumeist bettelnde Jungen, die kaum jemand vermisst

Dass Rais acht Jahre lang unentdeckt morden konnte, ist relativ leicht erklärbar. Die Opfer des Rattenfängers sind zumeist bettelnde Jungen, die niemand vermisst. Zwar werden die Gerüchte immer lauter, aber sein Stand schützt ihn. Auch die Kirche ist geschwächt. Ihre Stunde schlägt erst, als Gilles törichterweise einen Pfarrer überfällt und gefangen nimmt. Nun beginnt Jean de Malestroit, der Bischof von Nantes, gegen ihn vorzugehen.

Der kirchlichen Gerichtsbarkeit schließen sich die weltliche Justiz und das Inquisitionsgericht an. Man droht mit Folter, das Schlimmste aber ist für Rais, dass er wegen Häresie exkommuniziert wird. Nun knickt er ein, gesteht und lässt sich als reuiger Christ zum Galgen führen. Die Kirche schlachtet ihren Triumph propagandistisch aus: Der einst so selbstherrliche Feudalherr Gilles de Rais, der meinte, über allen Gesetzen zu stehen, wird für das Volk zum erbaulichen Büßer stilisiert. Er ist in den Schoß der Kirche zurückgekehrt und bekommt seinen letzten Wunsch erfüllt: ein Grab neben den ehrenvollsten Geschlechtern Frankreichs.

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