Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Betreten verboten

North Sentinel Island vor Indien ist vielleicht die gefährlichste Insel der Welt. Denn Fremde werden hier mit Pfeilen und Speeren empfangen. Die dortigen Bewohner setzen auf Isolation statt auf Weltgemeinschaft.

Von Tobias Sedlmaier

Wo auf dieser Erde gibt es überhaupt noch einen Fleck, der noch nicht entdeckt, erobert oder zivilisiert worden ist? Heute kann man sich auf den Gipfel des Mount Everest mit dem Helikopter bringen lassen, die Stromschnellen des Amazonas mit einem Boot durchqueren oder sich den Nordpol von einem Luxuskreuzfahrtschiff aus zu Gemüte führen. Das Abenteuer macht dem Sightseeing Platz. Alles ist vollständig ermess- und erkundbar, und wo man nicht unbedingt selbst hinfahren will oder kann, gibt es Kameras und Satelliten, die jedes noch so exotische Panorama ins Wohnzimmer heranzoomen. Nahezu genauso wie in dem Szenario, das Dave Eggers in seinem Roman "Der Circle" entwarf.

Es gab mehrmals Versuche, die Insel zu erkunden - bis heute jedoch ohne Erfolg

Das Zeitalter des Tourismus scheint auf seinem Zenit angekommen zu sein, zumindest auf dem irdischen. Der Tag, an dem die ersten Billetts für Flüge zum Mond auch für eine breitere Masse ausgegeben werden, ist nicht mehr fern. Zum Glück sind dort oben, nach aktuellem Stand der Wissenschaft, keine Lebewesen anzutreffen; denn der globale Reisewahnsinn ist zwar wunderbar für all diejenigen, die es sich leisten können. Für die Bereisten ist er jedoch mitunter ein Albtraum. Gerade der Kontakt zu Naturvölkern stürzte diese vielfach ins Unglück: Krankheiten wurden eingeschleppt, vorhandene Natur- und Kulturdenkmäler durch Touristenströme schwer in Mitleidenschaft gezogen, und monetäre, spirituelle und sexuelle Ausbeutungsmechanismen zerstörten vielfach ganze Kulturen.

Vielleicht ist das der Grund, warum die Einwohner des North Sentinel Island, die Sentinelesen genannt werden, seit Hunderten von Jahren sämtliche Annäherungsversuche von Fremden nicht nur in den Wind geschlagen, sondern mit jeder Menge Pfeile beantwortet haben. Über den Grund ihrer Verweigerung, Teil dessen zu sein, was oft so poetisch als Weltgemeinschaft bezeichnet wird, kann nur spekuliert werden: Es war schlicht noch kein Vertreter besagter Weltgemeinschaft lang genug auf dieser Insel.

Dabei gab es mehrmals Versuche, das rund 1200 Kilometer vor Indien gelegene und etwa 70 Quadratkilometer große Eiland zu erkunden. Ohnehin ist die gesamte Inselkette der Andamanen und Nikobaren, zu der mehr als 360 Inseln zählen, gut besucht - teilweise zu gut. Von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen als "Menschensafaris" bezeichnete Attraktionen sind beliebt: Auf Straßen, die durch bewaldetes Gebiet führen, werden die indigenen Einwohner der Andamanen, die Jawara, am Wegesrand wie im Zoo besichtigt und fotografiert. Nur nicht auf eben dieser einen Insel, auf der 1771 erste Anzeichen von Leben entdeckt wurden. Rund ein Jahrhundert später landete der britische Beamte Maurice Vidal Portman als erster Europäer auf North Sentinel Island. Von der Mitte des 20. Jahrhunderts an bemühte sich die indische Regierung, freundschaftliche Beziehungen zu den Insulanern aufzubauen, meist mit kläglichem Erfolg. Die Sentinelesen wollten niemanden auf ihre Insel lassen und bedrohten alle, die es versuchten, mit Speeren und Pfeilen. Das Metall dazu entnahmen sie zumeist den Hinterlassenschaften der fliehenden Eindringlinge.

Zwei besonders drastische Fälle von Fremdenabwehr ereigneten sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren. 1974 drehte der 2014 verstorbene indische Regisseur Prem Vaidya die Dokumentation "Man in Search of Man" über die Lebenswelt der Andamanen. Seine Versuche, die Sentinelesen mit Geschenken zur Teilnahme an den Dreharbeiten zu überzeugen, endeten mit einem Pfeil im Fuß. Sieben Jahre nach diesem Vorfall strandete der Frachter MS Primrose auf seinem Kurs nach Australien einhundert Meter vor der Insel auf einem Korallenriff. Nur der gerade tosende Seesturm verhinderte, dass die Inselbewohner mit ihren Booten zum Schiff vordringen konnten. Nach mehr als einer Woche konnte die 33-köpfige Besatzung schließlich per Hubschrauber gerettet werden. Das Wrack der Primrose liegt noch heute vor der Küste. Anfang der Neunzigerjahre entspannte sich die Lage und die Sentinelesen waren manchmal sogar bereit, Kokosnüsse als Geschenk anzunehmen. Doch die Verbesserung der Beziehungen zur indischen Regierung war nur von kurzer Dauer: In der Folge wurde North Sentinel Island 1996 zum Sperrgebiet erklärt.

Obwohl oder gerade weil damit ein nicht gerade alltäglicher Fall territorialer Isolation geschaffen wurde, gelangen immer noch Menschen in die Nähe der Insel und müssen die Konsequenzen tragen: 2004 wurde ein Hubschrauber mit Pfeilen beschossen, als er nach dem großen Tsunami den Zustand der Insel überprüfen wollte. Zwei Jahre später wurden zwei Fischer getötet, die per Zufall an den Strand getrieben worden waren.

So bleiben Sprache, Sitten oder die Religion der Sentinelesen ein Rätsel. DNA-Proben, die man Bewohnern von benachbarten Andamanen-Inseln entnommen hat, deuten darauf hin, dass ihre Vorfahren vor mehr als 60 000 Jahren aus Afrika auf die Insel übersiedelten. Eine Erforschung dieser Kultur und ihrer Herkunft wäre von wissenschaftlichem Interesse. Andererseits ist der Wunsch der Sentinelesen nach Isolation zu respektieren und ihr Recht auf Autonomie, Zivilisationsverweigerung und Nicht-Teilhabe am Weltgeschehen anzuerkennen. Sollte man es etwa nicht aushalten können, dass nur 99,99 Prozent der Welt vermessen sind? Inzwischen hat ein Satellit, der ironischerweise den Namen "Sentinel" trägt, Luftaufnahmen von der Insel gemacht. Vielleicht sollte man es bei diesem distanzierten Blick belassen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3124455
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.08.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.