Das Geheimnis:Tödliche See

Rudolf Diesel

Sein Motor machte ihn bekannt: Rudolf Diesel.

(Foto: picture alliance/dpa)

Im Jahr 1913 verschwand der berühmte Erfinder Rudolf Diesel spurlos auf dem Weg nach England.

Von Bernd Graff

Es war im Herbst 1913 eine Tragödie von Welt und zugleich eine schaurige Sensation. Die altehrwürdige New York Times vermeldete damals: "Der Doktor und berühmte Erfinder" sei spurlos verschwunden, und das "unter höchst mysteriösen Umständen". Wie sensationell dieses Verschwinden tatsächlich war, merkt man schon daran, dass sich die Spur des berühmten deutschen Ingenieurs zwar im Ärmelkanal verlor, die Nachricht dieses Verschwindens es dann aber nicht nur auf die Titelseite der Times schaffte. Sie benötigte auch nur einen Tag dazu, was angesichts der Kommunikationsmöglichkeiten von damals auch schon eine Sensation war.

Verschwunden war am 29. September 1913 im Alter von 55 Jahren der über alle Grenzen hinweg bekannte Jahrhunderterfinder Rudolf Diesel. Ja, genau der: der Erfinder des Dieselmotors, den er von 1892 an in mehreren Patenten beim Kaiserlichen Patentamt zu Berlin ziemlich umständlich eine "rationelle Wärmekraftmaschine" genannt hatte. Entwickelt wurde der Antrieb schließlich seit 1893 in Augsburg, im Vorläuferwerk von MAN, unter reichlich finanzieller Beteiligung des Industriellen Friedrich Krupp. Trotz der potenten Unterstützer entstand erst 1897 ein funktionstüchtiges Modell - dessen Innenleben und Technik dann so gründlich anders ausfielen als ursprünglich von Rudolf Diesel konzipiert, dass der Erfinder daran keine Patentrechte mehr hielt. Der äußerst effiziente Motor trat sofort seinen Siegeszug an und wurde schon bald in Kriegsschiffen, Fabriken, Generatoren, Zügen und Equipments zur Kohle- und Ölförderung eingesetzt.

Der kluge Ingenieur war nicht besonders smart, wenn es ums Geschäft ging

Durch seinen revolutionären Antrieb wurde der 1858 in Paris geborene, deutsche Ingenieur zum Star: Er galt als das bis zur völligen körperlichen und geistigen Erschöpfung arbeitende Genie, für seinen selbstzündenden Verbrennungsmotor wurde er 1900 mit dem Grand Prix der Weltausstellung von Paris prämiert.

Dabei stammte Diesel aus eher kleinen Verhältnissen. Sein Vater, ein Buchbinder, war der Liebe seines Lebens gefolgt und 1848 von Augsburg nach Paris gezogen, um dort die Geliebte zu ehelichen. Beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 musste die Familie Frankreich wieder verlassen und zog nach London. Rudolf, der zweitgeborene Sohn, wurde zu seinem Onkel nach Augsburg geschickt.

Der junge Diesel, immer einer der besten Schüler, wollte Ingenieur werden und schloss alles, was man dazu an Ausbildung nur absolvieren kann, stets als Primus ab. Sein Studium und die Promotion beendete er an der Technischen Hochschule München (der heutigen TU) sogar als Bester seit Bestehen der Lehranstalt. Nur geschäftlich war eben mit diesem Düsentrieb kaum etwas anzufangen. Obwohl er durch die Lizenzzahlungen für seinen Motor ein üppiges, ja gehobenstes Einkommen hatte und mit seiner Familie in einer prachtvoll für ihn gebauten Nobelvilla in Bogenhausen wohnte, wurde er von seinen Partnern und bösen Konkurrenten und solchen bösen Konkurrenten, die sich als seine Partner ausgaben, nach Strich und Faden übers Ohr gehauen. Der superkluge Rudolf Diesel war leider nicht besonders smart, wenn es ums Geschäft ging. Die unzähligen Prozesse um die Patente wurden zu einem großen Problem für ihn. Sie belasteten ihn zunehmend finanziell und zerrütteten schließlich auch seine Gesundheit.

Die ständigen Kalamitäten zwangen Rudolf Diesel am 29. September 1913 zu einer Reise nach London zu einer Versammlung der Vorstände der Consolidated Diesel Manufacturing Ltd. In Antwerpen bestieg er das Dampf-Fährschiff Dresden zu einer Fahrt über den Ärmelkanal, am nächsten Tag sollte die Sitzung stattfinden. Diesel hatte noch vor der Abreise in einem Brief an seinen Sohn über Herzprobleme geklagt. Doch an diesem Tag sei er angeblich bester Dinge und voller Zuversicht gewesen, berichten Zeugen, die mit an Bord waren. Die New York Times spricht in ihrer Meldung am Folgetag davon, Diesel sei sogar "in the very best spirits" gewesen.

Er hatte sein Abendessen eingenommen und sich zur Nacht verabschiedet, bat noch darum, geweckt zu werden - und ward danach von keiner lebenden Seele je wieder gesehen. Als das Boot am nächsten Morgen in England anlegte, war der berühmte Erfinder nicht mehr an Bord der Fähre.

Tage nach seinem Verschwinden wurde eine stark verweste Leiche im Ärmelkanal gefunden

Man fand ein aufgeschlagenes, jedoch nicht genutztes Bett mit akkurat aufgelegtem Schlafanzug. Im Schloss seines Koffers steckte noch der Schlüssel. Ansonsten fehlte jede Spur des Erfinders, als sei er von einer Sekunde auf die andere verschwunden. "Selbstmord" wurde sofort spekuliert, aber ein Mann "in the very best spirits" sagt nicht höflich "Gute Nacht", um wenig später einsam über die Reling zu springen. Von da an blühten also die Gerüchte und Theorien. Litt Diesel unter Schlaflosigkeit und war deshalb allein an Deck gegangen, um dort fatalerweise über Bord zu gehen? Ein Unfall? Die See war indes spiegelglatt gewesen, das passte auch nicht. War er schlafwandelnd über die Reling balanciert und dann auf der falschen, der Seeseite, abgestiegen?

Diesel blieb unauffindbar. Die New York Times konstatierte am 2. Oktober, Diesel sei Millionär gewesen und Oberhaupt einer glücklichen Familie. Dann wurde es aber immer seltsamer: Am 13. Oktober wollte die Zeitung dann herausgefunden haben, dass Diesels Familie "in extremen Nöten" gelebt habe, um am 15. Oktober nachzulegen: Diesel sei "pleite" gewesen mit Schulden von 375 000 Dollar bei einem zählbaren Besitz von vielleicht lediglich 10 000 Dollar. Im Frühjahr 1914 dann aber die Meldung: Dr. Diesel habe in Kanada "ein neues Leben" begonnen. Vor seiner "Abreise" habe er seiner Frau einen Koffer voller Geld für kommende schlechte Zeiten übereignet.

Diesen wüsten Mutmaßungen widersprach allerdings der Fund einer stark zersetzten Leiche im Ärmelkanal, zehn Tage nach Diesels Verschwinden. Die Besatzung eines Lotsenbootes konnte den Toten zwar nicht bergen, nahm ihm aber einige Gegenstände ab, darunter Brillenetui, Pillendose und ein Taschenmesser. Sie wurden später von Sohn Eugen Diesel eindeutig als Utensilien seines Vaters identifiziert. Was also geschah in jener schwarzen Nacht wirklich mit dem Mann ohne Grab, über dessen Ende sich bis heute kaum mehr als Feinstaub legen konnte?

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