Maßschneider in der Corona-Krise:Wenn der Faden reißt

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Wer braucht schon einen Maßanzug, wo man doch so bequem in der Jogginghose im Home-Office lümmeln kann? (Foto: Miguel Medina/AFP)

Die traditionsbewussten Herrenschneider in der Londoner Savile Row, die schon Churchill und Charles Dickens einkleideten, leiden besonders unter der Corona-Krise. Dass Maßnehmen Nähe erfordert, ist aber nur eines von vielen Problemen.

Von Alexander Menden, London

Gleich zu Beginn der Corona-Krise versuchte James Sleater, Kontakt mit dem britischen Gesundheitsministerium aufzunehmen. Der Mitgründer des Londoner Maßschneiders Cad & the Dandy wollte seine Hilfe bei der Produktion von Schwesternkitteln anbieten, die zu diesem Zeitpunkt in britischen Krankenhäusern knapp zu werden drohten. "Wir haben vier Wochen nichts gehört", sagt Sleater. "Ich dachte: Das ist doch Irrsinn - und habe einfach angefangen, sie auf eigene Faust gratis herzustellen." Mittlerweile nähen bei Cad & the Dandy zwölf Schneider 150 Krankenhauskittel am Tag. Auch Mund- Nasen-Schutzmasken kann man hier bestellen.

Selbst durchs Telefon ist Sleater die Frustration darüber überdeutlich anzumerken, wie wenig das Potenzial des britischen Schneiderhandwerks in der Krise bisher abgerufen wurde. "Die Savile Row ist eine einzige große Manufaktur, die viel schneller und effektiver hätte genutzt werden können." Dabei gäbe es reichlich Kapazitäten - nach Sleaters Einschätzung sind durch die Pandemie seit März 95 Prozent des Auftragsvolumens der Londoner Herrenschneider weggebrochen.

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Vorne holzgetäfelte Verkaufsräume, hinten vollgestopfte Werkstätten

Savile Row im Londoner Stadtteil Mayfair, das sind zwei Welten - vorne blumengeschmückte Fassaden und holzgetäfelte Verkaufsräume, hinten vollgestopfte Werkstätten in verwinkelten Hinterzimmern. Gemeinsam bilden diese beiden Welten seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Zentrum des "bespoke tailoring", der britischen Maßschneiderei für den Herrn.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildet die Savile Row das Zentrum der britischen Herrenschneiderei. Hier ein Bild von 1957. (Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images)

Kaiser Napoleon III. ließ hier ebenso Maß nehmen wie Bismarck und Winston Churchill. Charles Dickens zahlte am 14. Februar 1865 bei Henry Poole & Co. mit einem Scheck, dessen Kopie bis heute neben der Eingangstür des Ladengeschäfts an der Wand hängt.

Trotz all dieses Reichtums an Traditionen befand sich die Straße hinter der Royal Academy allerdings schon vor Corona in einer Krise. Im vergangenen Jahr meldete Hardy Amies Konkurs an, einer der bedeutendsten englischen Nachkriegsschneider, der auch die Queen eingekleidet hatte. Weitere Unternehmen wie Chester Barrie und die 140 Jahre alte Firma Kilgour folgten. Konkurrenz um ein begrenztes Auftragsvolumen, kommerzieller Druck durch Ex-und-hopp-Modezyklen, astronomische Mietpreise und die Planungsunsicherheit, die mit dem Brexit einherging - all das setzte einer Branche zu, die wegen ihres handwerklichen Aufwands schon immer schmale Verdienstmargen aufwies.

Die größte Herausforderung des Geschäfts mit Maßanzügen besteht in Zeiten des Social Distancing darin, dass man dem Kunden beim Maßnehmen körperlich nahe kommen muss. Einige amerikanische Schneider haben dem Vernehmen nach damit begonnen, ihre Kunden zu vermessen, während diese in einer Plexiglaskiste stehen. "Das ist für uns überhaupt keine Option", sagt James Sleater. "Wir werden lieber mehr Platz in unserem Fitting Room schaffen- der ist fünf mal fünf Meter groß und gut lüftbar."

Die Hochzeitssaison ist komplett ausgefallen

Manche Läden, wie etwa Norton & Sons, haben zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert ihre Türen für den Kundenverkehr einstweilen geschlossen. Trotz minimaler Umsätze laufen jedoch viele reguläre Kosten weiter. Manche Immobilieneigentümer haben zwar die Geschäftsmieten für drei Monate gestundet, erlassen worden sind sie aber niemandem. Das heißt, dass irgendwann die Miete für ein halbes Jahr innerhalb von drei Monaten fällig wird. Mittlerweile stehen 13 Läden an der Savile Row leer.

Auch Cad & the Dandy mussten Mitarbeiter entlassen. "Unser Geschäft ist sehr zyklisch", erklärt James Sleater. "In den Frühlings- und Sommermonaten sind wir normalerweise wegen der Hochzeitssaison sehr ausgelastet. Die Mitarbeiter, die wir in dieser Zeit brauchen, müssen wir in den ruhigeren Monaten weiterbeschäftigen. Das konnten wir uns in diesem Jahr aber nicht leisten, weil die Hochzeitssaison komplett ausgefallen ist."

Die Läden (und bisweilen auch die Anzüge selbst) sind von charmant gestriger Gediegenheit. (Foto: Matthew Lloyd/Getty Images)

Dabei waren Cad & the Dandy in mancherlei Hinsicht besser für die Pandemie gerüstet als viele ältere Mitbewerber. Die Firma wurde erst 2008 gegründet und ist damit ein Neuankömmling in der Savile Row. Bestandskunden, die mit ihren Maßen in der Datenbank sind, können hier online oder telefonisch bestellen, ohne den Laden je wieder zu betreten. Auch "virtual fittings" per Videokonferenz sind möglich. Undenkbar für traditionellere Schneider, deren Geschäftsgebaren sich seit dem 19. Jahrhundert nicht grundlegend verändert hat. In guten Zeiten mag diese charmant gestrige Gediegenheit als nostalgischer Verkaufsanreiz durchgehen. Jetzt aber erweist sie sich als krisenanfällig.

Sleater rechnet nicht damit, dass die Savile Row 2020 wieder das gewohnte Produktionsniveau erreichen wird, zumal auch fest eingeplante Anprobe-Reisen zu Stammkunden in den Vereinigten Staaten oder China vorerst gestrichen sind. Besser werde es frühestens im kommenden Jahr, für das er "eine außergewöhnlich dichte Heiratssaison" erwarte, weil viele Hochzeiten verschoben wurden. Bis dahin werden wohl noch weitere Traditionsunternehmen der Pandemie zum Opfer fallen.

Corona hat die Grenzen der globalisierten Billigproduktion aufgezeigt

Sleater sieht die derzeitige dramatische Situation aber auch als Chance, die das "bespoke tailoring" nutzen könne, um seine Anziehungskraft zurückzugewinnen. Eine Rückbesinnung auf traditionelle, handwerklich einwandfreie Qualität könnte dazu beitragen, nachdem die Corona-Krise die Grenzen jener globalisierten Billigproduktion aufgezeigt hat, an die man sich so gewöhnt hatte.

"Wir müssen zugänglicher und relevanter werden, und wir müssen lernen, innerhalb der Branche viel besser zusammenzuarbeiten", sagt Sleater. "Wenn Corona uns irgendetwas beweist, dann, dass ein Geschäftsmodell kein automatisches Existenzrecht hat, nur weil es 150 Jahre alt ist."

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