Traditionsküche:Bei Oma schmeckt's am besten

Unser Kulinarisches Erbe

Omas Funzelsuppe ist ein Bestseller.

(Foto: Becker Joest Volk Verlag/Caro Hoene)

Auf Youtube trösten Italiens "Pasta Grannies" oder Knödel kochende Großmütter aus Bayern Tausende Familien durch den Lockdown. Auch Kochbücher mit Hausmannskost boomen.

Von Titus Arnu

Letizia ist 100 Jahre alt, aber ihre Hände arbeiten immer noch flink. Sie greift in die Papiertüte mit der Aufschrift "Farina di grano duro siciliano" - sizilianisches Hartweizenmehl - und lässt routiniert zwei Hände davon auf die hölzerne Arbeitsfläche rieseln. "Meine Mutter hatte keine Küchenwaage, sie maß die Mengen immer so ab: eine Hand Mehl pro Person", sagt die alte Dame auf Italienisch in die Kamera. Sie formt eine Mulde in der Mitte des Häufchens, gießt lauwarmes Wasser hinein und beginnt hingebungsvoll zu kneten. Wenig später rollt sie den Teig mit einem Nudelholz aus und schneidet ihn in hauchfeine Streifen - hausgemachte Tagliatelle, die sie mit einem Püree aus Fenchel, Fava-Bohnen und Zwiebeln serviert.

In der Küche der pensionierten Grundschullehrerin aus Trapani in Sizilien hat sich ein kleines Publikum für ihre Rezeptstunde versammelt. Verwandte, Nachbarn und ein Filmteam sind gekommen, um Letizia bei der Nudelproduktion zu beobachten. Tausende Male hat sie Tagliatelle gemacht, immer auf die gleiche Weise, schon zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Letizias Stimme zittert etwas, als sie ihr Nudelrezept erklärt, sie war extra beim Friseur und hat ihren Schmuck angelegt - schließlich schauen ihr später sehr viele Menschen beim Kochen zu. Mehr als 400 000 Mal wurde das knapp siebenminütige Tagliatelle-Video, das natürlich vor der Corona-Pandemie entstanden ist, bisher angeklickt.

Letizia ist ein Youtube-Star, die älteste Protagonistin des Kanals "Pasta Grannies". Gut 200 italienische Großmütter zeigen unter diesem Label, wie man Gnocchi mit Salsiccia, Cappellacci mit Kürbis oder perfekte Tortellini macht. Die Nudel-Omas haben weltweit 480 000 Abonnenten. Manches ihrer Videos bringt es auf mehr als 800 000 Aufrufe, etwa das der 94-jährigen Cesaria, die vor der Kamera Lorighittas mit Hühnerragout kocht, ein sardisches Pastagericht.

Die Idee zur charmanten Reihe über das kulinarische Erbe der italienischen Hausfrauen (pastagrannies.com) hatte Vicky Bennison, eine britische Kochbuch-Autorin mit Zweitwohnsitz in den Marken. Ihr liebevoll zusammengestelltes Kochbuch "Pasta Tradizionale - das geheime Wissen der Pasta Grannies" ist gerade auf Deutsch erschienen, mit 80 Pastarezepten samt dazugehörigen Großmuttergeschichten. "Diese Frauen haben eine fast körperliche Verbindung mit den Nudeln", sagt Bennison.

Hausmacherküche ist in der Corona-Krise wieder gefragt

Was braucht man für eine perfekte hausgemachte Pasta? Wissen über die richtigen Zutaten, Zeit und Geduld, eine große Portion Erfahrung und viel Liebe. All das bringen die Großmütter mit, ihnen wird eine hohe Kompetenz besonders in traditionellen einfachen Gerichten wie Teigwaren, Eintöpfen und Suppen zugestanden. Gerade während der Beschränkungen durch die Corona-Pandemie ist die Hausmacherküche wieder sehr gefragt, überall wird Brot gebacken, Gemüse eingekocht und Braten geschmort. Bewährte Familienrezepte sorgen eben für ein gewisses Sicherheitsgefühl, vor allem in unsicheren Zeiten. Das merkt man auch an den Abrufzahlen der Pasta-Grannies-Videos, die in den vergangenen Wochen sprunghaft angestiegen sind. Omaküche steht für Geborgenheit und Genuss - kein Wunder also, dass man das kulinarische Erbe der Großmütter gerade auf allen Kanälen zelebriert.

Wir alle sehnen uns nach der Behaglichkeit, die von einer klassischen Linsensuppe, gefüllten Klößen oder einem Rinderschmorbraten ausgeht. Die Kochkunst der eigenen Großmutter kann im Zweifel ein höheres Wohlgefühl erzielen als die fremd wirkenden Kreationen eines Sternekochs. Sogar dann, wenn das betreffende Hühnerfrikassee objektiv betrachtet gar nicht so gut zubereitet wurde. Psychologie!

Rezept
Funzelsuppe (Suppe aus geriebenen Kartoffeln)
Funzelsuppe

Zutaten: 300 g Zwiebeln 200 g Karotten 200 g Knollensellerie 100 g Fenchel 100 g Lauch 1 Knoblauchzehe 180 ml Weißwein 1 kg festkochende Kartoffeln 1 Bund Petersilie 2 TL Zucker, Salz

Zubereitung: Gemüse putzen und in feine Scheiben schneiden. Alles bis auf den Lauch mit Weißwein, 1,5 l Wasser und etwas Salz aufkochen. 15 Minuten ziehen lassen, Lauch zugeben und weitere 15 Minuten ziehen lassen. Brühe durch ein Tuch abgießen (alternativ eine fertige Bio-Gemüsebrühe nehmen). Kartoffel schälen, grob raspeln und kurz aufkochen, anschließend so lange ziehen lassen, bis die Kartoffeln gar sind und die Suppe leicht gebunden ist. Gehackte Petersilie, Zucker und Salz einrühren.

Im übersättigten Kochbuchmarkt kommen Titel mit Senioren-Content deshalb besonders gut an. Bücher mit Titeln wie "Aus Großmutters Küche", "Die Schätze aus Omas Backbuch", "Kuchen von der Oma: Backweisheiten und Lebensrezepte" feiern gerade wieder klassische Hausmannskost und fast vergessene Spezialitäten.

Es geht um die Intensität des Heimatgefühls

Der Wiener Spitzenkoch Bernie Rieder hat in seinem "Oma-Kochbuch" Rezepte für Schweinsbraten, Gulasch, Gurkensalat und andere österreichische Klassiker versammelt. Im Wiener Oma-Café "Vollpension" kochen und arbeiten nur Senioren. Auch im New Yorker Lokal "Enoteca Maria" hat der italienischstämmige Gastronom Joe Scaravella die Omaküche zum Prinzip gemacht. In seinem Restaurant bereiten ältere Frauen täglich wechselnde Speisen zu, nach traditionellen Rezepten aus aller Welt. Wichtig für Scaravella ist nicht die Zahl der Enkel der Hobbyköchinnen, sondern die Intensität des Heimatgefühls, das ihre Gerichte auslösen können.

Ähnlich wie Italiens Pasta-Grannies kochen auch bayerische Großmütter auf Youtube: Die Reihe "Aus Omas Küche" hat die Passauer Neue Presse ins Leben gerufen, zubereitet wird hier so Traditionelles wie Wasserspatzen, Dampfnudeln und Fleckknödel. Vor allem aber konzentriert sich die Reihe auf Gerichte, die vom Aussterben bedroht sind, etwa Rupfhauben (eine Mehlspeise für die Fastenzeit), Baumfleisch (Eintopf mit Dörrobst) und Wespennester (Kartoffelstrudel mit Äpfeln und Rosinen).

Rezept
Letizias Tagliatelle mit Fava-Bohnen und Fenchel

Zutaten: Für die Pasta: 600 g Hartweizenmehl 400 ml lauwarmes Wasser ½ TL Salz Für das Bohnenpüree: 1 Zwiebel 1 Karotte 400 g getrocknete Fava-Bohnen 1 Prise Fenchelsamen 1 Lorbeerblatt

Zubereitung: Aus Mehl, Salz und Wasser Pastateig kneten und ruhen lassen. Später ausrollen, in Streifen schneiden (3 mm). Das Gemüse putzen, hacken und in Olivenöl andünsten, die Fenchelsamen zugeben. Nach 7 - 10 Minuten auch die Bohnen zugeben und mit Wasser aufgießen, zuletzt das Lorbeerblatt zugeben. Alles 20 Minuten köcheln lassen, bis die Bohnen weich sind. Nudeln kochen und mit dem Bohnenpüree vermischen. Nach Belieben mit Chili, Olivenöl und Fenchelkraut bestreuen.

Ein ähnliches Konzept verfolgen Manuela Rehn und Jörg Reuter mit ihrem neuen Buchprojekt "Unser kulinarisches Erbe - Lieblingsrezepte der Generation unserer Großeltern". Rehn und Reuter betreiben in Berlin den Lebensmittelladen "Vom Einfachen das Gute" und haben für ihr Buch Senioren und Seniorinnen in ganz Deutschland nach Rezepten gefragt. Gemeinsam mit Profiköchen recherchierten Manuela Rehn und Jörg Reuter traditionelle Gerichte, von denen jüngere Leser wohl noch nie etwas gehört haben. Was ist Funzelsuppe? Was sind Großer Hans, Dippehas, Diebchen mit Duckefett und Knisterfinken?

Also, der Reihe nach: Funzelsuppe ist eine einfache Kartoffelsuppe mit Wurzelgemüse, Weißwein und geriebenen Kartoffeln. Großer Hans eine traditionelle norddeutsche Mehlspeise, die im Wasserbad gegart und mit einer Fruchtsoße gegessen wird. Dippehas ist geschmorter Hase mit Rotwein, Sahne und Dörrpflaumen, typisch für Rheinhessen. Diebchen mit Duckefett sind mit Wurst gefüllte Kartoffelklöße in einer Sauce aus Speck, Milch und saurer Sahne. Bei Knisterfinken handelt es sich um eine Spezialität aus dem Münsterland, einen Eintopf aus Stielmus, dem Grün von Rübenstielen. Rehn und Reuter haben mehr geschaffen als eine originelle Rezeptsammlung, ihr Buch lebt von berührenden Begegnungen und der Wertschätzung gegenüber der älteren Generation.

Selbst in Italien kaufen die Leute lieber Pasta im Supermarkt anstatt sie selbst zu machen

Der Entdeckerin der italienischen Pasta-Grannies ging es ähnlich. "Ich wollte eine Art Arche Noah mit Hausfrauentechniken zur Herstellung von Pasta schaffen", sagt die britische Autorin Vicky Bennison. Bei der Recherche nach geeigneten Omas wurde ihr klar, wie sehr sich auch Italiens Küchenkultur wandelt. Methoden, die seit Jahrhunderten von Großmutter zu Mutter zu Tochter weitergegeben wurden, drohen auszusterben. Aus Zeitgründen kaufen die meisten Leute lieber fertige Pasta im Supermarkt, statt sie selbst zu machen.

Im Laufe der vergangenen sechs Jahre, in denen Bennison monatlich zwei bis drei Seniorinnen in allen Ecken Italiens traf, entdeckte sie verbindende Elemente, die sie als typisch für Frauen dieser Generation einordnet: "Sie haben alle jede Menge Energie, sind fleißig, bescheiden und dauernd in Bewegung." Viele waren auch noch mit über 90 selbständig und sozial hochaktiv.

Mithilfe der italienischen Köchin Livia De Giovanni castete Bennison ihre Pasta-Stars in Privatküchen von Sizilien bis Südtirol. Etwa Albertina Giuliani, 97, aus Bologna. Albertina macht seit 90 Jahren Pasta. Als siebenjähriges Mädchen lernte sie schon von ihrer Großmutter, wie man Tortellini formt, die für die Region Emilia Romagna so typisch sind. Jeden Handgriff hat sie Zigtausende Male geübt und perfektioniert. Nun trägt sie eine weiße Schürze über dem dunkelroten Pullover, lächelt in die Kamera und knetet dabei Teig. Während er ruht, setzt sie Brühe aus Hühner- und Rindfleisch, Sellerie, Karotten und Zwiebeln an und lässt alles leise köcheln. Für die Füllung nimmt sie Schweinehack, ein Ei, 30 Monate alten Parmesan, Salz, Pfeffer und Muskatnuss. Das Ergebnis schmeckt, im wörtlichen Sinne, herzhaft.

Vicky Bennison ist mittlerweile selbst Großmutter, sie hat einen zweijährigen Enkel. Ab und zu bereitet sie für ihn zu Hause in London selbstgemachte Pasta nach italienischem Originalrezept zu. Besonders gerne mag sie Gerichte aus Ligurien und Sardinien mit frischen Kräutern und Nüssen. Aber manchmal braucht sie dann eine Pasta-Pause: "Ich muss beruflich bis zu viermal am Tag Nudeln essen, sonst sind die Köchinnen beleidigt." Irgendwann ist dann auch mal basta mit Pasta.

Vicky Bennison: Pasta Tradizionale - Die Originalrezepte aus ganz Italien: Das geheime Wissen der Pasta Grannies. EMF Verlag, 30 Euro Jörg Reuther, Manuela Rehn: Unser kulinarisches Erbe. Lieblingsrezepte der Generation unserer Großeltern. Becker Joest Volk Verlag, 29,95 Euro

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