Christstollen:Die reine Sünde

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Ein traditioneller Stollen wird mit reichlich Puderzucker serviert - und Rosinen. Die müssen ganz eng beieinander sein.

(Foto: imago/CHROMORANGE)

Was einen guten Christstollen ausmacht? Nirgendwo nehmen sie diese Frage so ernst wie in Dresden. Die Antwort liegt zwischen Exzess und Tradition.

Von Cornelius Pollmer

Das Industriegelände im Dresdner Norden gehört zu den zweifelhaften Gegenden der Stadt, und wer es dennoch aufsucht, der trifft Rocker und Reifenhändler und Importeure von Produkten der Marke Vom-Laster-gefallen, sowie, in den Morgenstunden, sehr jugendliche Drogenausprobierer.

Es gibt in diesem urbanen Ödland aber auch einen fantastisch unscheinbaren Zweckbau, eine Außenstelle der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk und darin einen Papst, Siegfried Heller I. Heller ist 77 Jahre alt, er steht für das unzweifelhaft Schöne an Dresden, nämlich für den Christstollen.

Den Beinamen "Stollen-Papst" hat ihm die Bild-Zeitung vor ein paar Jahren verpasst, und er scheint schlüssig zu sein, wenn man sich in Erinnerung ruft, was der kabarettistische Dresden- und Stollenkenner Uwe Steimle einst formuliert hat: "Wir Sachsen sind ja Heiden. Außer eben beim Stollen, da werden wir religiös."

Diese Quasi-Religiosität hat viele Ausprägungen, deren deutlichste ist bei Heller und seinen Kollegen zu beobachten, an einem gewöhnlichen Montagvormittag im November in einem gewöhnlichen Laborraum. Seit Wochen prüfen die Herren vom Schutzverband Dresdner Stollen Laib um Laib. Heller hat seine weiße Bäckerjacke schon umgeknöpft, das EU-Siegel "geografisch geschützte Angabe" auf dem Ärmel sieht aus wie ein Logo auf einem Champions-League-Trikot.

Es ist die 16. Prüfung in dieser Saison, es geht um die formal wichtige Vergabe der Stollensiegel. Der Dresdner Stollen ist noch immer eine heilige Tradition in vielen Familien, es ist aber bekanntlich längst auch ein riesiger Exportmarkt um ihm entstanden. Vier Millionen Dresdner Christstollen wurden im vergangenen Jahr verkauft, mehr als 120 Bäckereien und Konditoreien sind dem Schutzverband inzwischen beigetreten.

Die Exporte gehen bis zu Kaffeetafeln in Japan, und der striezelgerechten völligen Maßlosigkeit ergibt sich Dresden alljährlich zum Stollenfest. 60 000 Besucher feierten es im Jahr 2015, auf 400 Platten wurde da ein dreieinhalb Tonnen schwerer Riesenstriezel aufgebahrt. Zum Jubiläum des Festes zwei Jahre zuvor hatte man geschätzte 2,8 Millionen Rosinen verbacken.

Exzess nach traditionellen Regeln

Dieser Exzess folgt allerdings ganz klaren traditionellen Regeln, und um deren Einhaltung sind Heller und seine Kollegen bemüht. In den Sitzungen haben sie Formulare vor sich liegen, das "Stollengutachten", und diesem liegt ein akkurates Prüfschema zugrunde. Es geht schon damit los, dass Siegfried Heller selbst nicht mehr prüfen darf, er bereitet die Sitzungen lediglich vor. Mit 75 Jahren ist Schluss, "wegen der Geschmacksknospen".

Nun also prüfen seine Kollegen, in vier Kategorien. Bei der "äußeren Beschaffenheit" geht es um Risse in der Kruste, womöglich fahle Bräunung, ein Über- oder Untermaß an Dekorzucker. Auf dem Feld "innerer Beschaffenheit" werden Krume, Porung und Krumenfarbe untersucht (ofenrot? Grau verfärbt?), schließlich folgen die Kategorien Geruch und Geschmack - säuerlich, talgig, ranzig? Mehlig, kleistrig, brenzlig?

Die Liste möglicher Mängel ist riesenstriezellang und erst wenn sie abgearbeitet ist, heben die Prüfer ihre laminierte, puderzuckerberieselten Bewertungskärtchen mit den Ziffern zwischen 0 und 5. Ein Prüfstollen kann maximal 20 Punkte erreichen, laut Satzung gibt es das Siegel nur bei Werten von 16 oder höher. Wer durchfällt, bekommt Besuch und Beratung durch den Schutzverband.

Das ist der technische Teil, aber mit Technik allein wird niemand zum Papst....

Leben mit dem Stollen

Siegfried Heller steht alsbald ein feiner Schimmer in den Augen, wenn er über sein Leben mit dem Stollen spricht. Er war schon in der Bäckerlehre, als er das erste Mal mit dem Striezel zu tun bekam. Seitdem, seit 60 Jahren, gehört sein Leben und gehören Teile des Lebens seiner Familie dem Stollen.

Heller steht jährlich in der Backstube auf dem Striezelmarkt, sein Enkel ist Bäcker in Dresden, und selbst im Sommer kommt er vom Striezel nicht weg. Bei irgendeinem Kollegen gibt es immer etwas zu verkosten, und in Dresden gibt es ja auch Bäckereien, die schon Mitte des Jahres mit der Produktion für die Weihnachtszeit beginnen - und die, wegen der hohen Nachfrage, ihr Angebot dann dennoch nicht bis dahin halten können.

Noch sichtbarer wird die große Liebe der Dresdner zum Stollen in den Familien. Der Trompeter Ludwig Güttler erinnert sich, wie früher das Jahr über in der mangelwirtschaftenden DDR die Zutaten zusammengesammelt wurden, Zucker und Butter hatte es ganz früher noch auf Marken gegeben. Der Stollen wurde nach - heute vielerorts verblichener - Dresdner Tradition damals am ersten Weihnachtstag angeschnitten.

In vielen Familien war und ist es zudem Brauch, den Stollen arbeitsteilig mit einer Bäckerei des Vertrauens herzustellen. Die Zutaten werden gekauft und daheim vorbereitet, der Bäcker verbindet sie zum Teig und bäckt den Laib aus.

So verweist auch Kabarettist Uwe Steimle auf die Stammadresse der Familie, die Feinbäckerei Gocht und erinnert sich, wie früher der Bäcker nur unter dem kritischem Blick der anliefernden Hausfrauen zur Tat gehen konnte, eine jede von ihnen darauf bedacht, dass die eigenen Zutaten nicht mit den gewiss minderwertigen der anderen vermengt werden.

Steimle hat diese und andere Episoden vor einer Weile auf einer CD unter dem schönen Titel "Hören Sie es riechen" versammelt, ein lohnenswerter Grundkurs für Unkundige, der auch die Tischregeln bereithält: "Der Stollen ist in Ruhe zu essen", sagt Steimle, er sollte in daumendicke Scheiben geschnitten werden, und es gelte in diesem besonderen Fall, dass beim Verzehr der Teller zum Mund oder der Mund zum Teller geführt werden dürfe, aber "Achtung, im Moment des Abbisses nicht ausatmen!" - sonst könnte sich der Puderschnee lösen, der gerne einen Zentimeter hoch den Stollen bedeckt und von der Butterschicht auf dem Striezel womöglich nicht verlässlich angebunden ist.

Zur Hälfte aus Butter

Wem das schon sündig in den Ohren klingt, der hat von der Grundrezeptur noch nichts gehört. Auf die Mehlmenge, sagt Siegfried Heller, sollten etwa 50 Prozent Butter kommen, und auch für den Einsatz von Rosinen hat er einen praktischen Hinweis: "Die müssen sich zuflüstern können, nicht rufen, die müssen ganz eng beieinander sein."

Neben dieser Großzügigkeit zeichnen auch ein paar Spezialzutaten den Dresdner Stollen aus, allen voran die Bittermandel. "Da ist Blausäure drin, ja, aber das passt auf die Menge, und in den Dresdner Christstollen gehört die Bittermandel nun mal rein", sagt Heller.

Die Wissenschaft kennt den Stollen als "Gebildbrot", als figürliche Darstellung, sie soll ein in Leinen gewickeltes Christkind symbolisieren. Kulturell lässt sich am Stollen noch mehr ablesen, nämlich die Wohlstandsgewinne in Sachsen. Der Striezel begann als Fastengebäck aus Mehl, Hefe, Wasser. Später trug auch die katholische Kirche zur Aufwertung der Rezeptur bei. Papst Innozenz VIII. erlaubte 1491 die Zugabe von Butter, weil man in Dresden "des Öhles nicht genug, sondern viel zu wenig und nur stinkend habe". In der DDR wiederum hatte man mitunter der Rosinen zu wenig, und so schickte der Westen welche und bekam zum Dank ein Ostpaket mit fertig gebackenem Striezel zurück.

Heute mangelt es an keinerlei Zutaten, im Gegenteil, dem Stollen werden zuweilen Dinge einverleibt, die er vielleicht lieber nicht kennenlernen wollte: Cranberries, Macadamia-Nüsse. Heller akzeptiert solche Experimente, die Rezeptur des originalen Dresdner Christstollen aber hält er für ausgereizt. Es gibt für diesen einen Rezept-Korridor, den der Schutzverband vorgibt, Heller erkennt viele Betriebe und ihre Rezepturen längst blind bei den Verkostungen.

Allerdings schaut er etwas ratlos auf die Zukunft seiner Tradition. Die Jugend, glaubt er, sei nicht mehr sehr am Stollen interessiert. Aber so ganz nimmt man ihm den Pessimismus nicht ab, angesichts des jährlich wachsenden Boheis um den Striezel. Auch Heller hat dessen Vorzüge schließlich erst als Lehrling entdeckt.

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