Süddeutsche Zeitung

100. Geburtstag von Celestino Piatti:Alles, was er malte, hatte Augen

Celestino Piatti gestaltete jahrzehntelang fast jedes Cover von dtv und gab so der Nachkriegsliteratur ihre unverwechselbare Optik. Eine Würdigung zum 100. Geburtstag.

Von Joachim Käppner

Es gibt eine Frage, die Celestino Piatti oftmals gestellt wurde. Wie er denn auf die Eule als eines seiner Hauptmotive gekommen sei? Einmal, in Basel, musterte er sein Gegenüber eine ganze Weile lang und antwortete: "Wissen Sie, Sie kann ich mir auch sehr gut als Eule vorstellen."

Auf Distanz bedacht, ohne verletzend zu sein; das Schöne zu schaffen, ohne das Hässliche zu verschweigen; spielerisch leicht die Gegenwart zu illustrieren, ohne ihre Grausamkeit zu vergessen: So ließe sich, vielleicht und wenn das überhaupt möglich ist, das gewaltige Werk des Illustrators Celestino Piatti (1922- 2007) zusammenfassen. Am 5. Januar wäre er 100 Jahre alt geworden, ein sehr berechtigter Anlass für seinen deutschen Stammverlag dtv, einen Bildband herauszugeben, ach was Bildband, eine Hommage, eine Liebeserklärung an einen bedeutenden Künstler.

Celestino Piatti kam aus vergleichsweise bescheidenen Verhältnissen, er wurde 1922 im schweizerischen Wangen als Sohn einer Bäuerin und eines Steinhauers geboren. Künstlerisch begabt lernte er Grafik und Design in einem Land, das einer Insel der Seligen glich, während sich der Schatten Hitlerdeutschlands über Europa legte und bald fast ganz Europa unter deutsche Knechtschaft geriet. Das Heitere, Hintergründige, Lebensbejahende, das sein riesiges Oeuvre prägte, erscheint manchmal wie eine Vision dessen, wohin sich Europa hätte entwickeln können ohne Faschismus, Weltkrieg und Holocaust.

Schon 1948 war Piatti in der Schweiz ein sehr bekannter Plakatmaler, er schuf die Werbeplakate für die erfolgreiche Rabatt-Kampagne der Basler Konsumgesellschaft "Hamstern macht Spaß", nämlich fröhliche Goldhamster (im verwüsteten Deutschland jenseits der Grenze galt "Hamstern" als der Versuch, irgendwie an Lebensmittel zu kommen, aber das störte die Schweizer nicht). In der Bundesrepublik kannte man Celestino Piatti in späteren Jahren vor allem durch den Deutschen Taschenbuch Verlag. Mehr als 30 Jahre lang zeichnete und malte er fast jedes Titelbild für dtv. Dessen Taschenbücher waren in den Fünfziger- und Sechzigerjahren so etwas wie eine kleine kulturelle Revolution, sie machten Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Heinrich Mann, Stanislaw Lem, Sarah Kirsch, Isaac B. Singer und so viele andere für fast jedermann erschwinglich und wie nebenbei durch Piatti noch zum ästhetischen Genuss. Er gab, wenn man so will, der deutschen Demokratisierung wirkmächtige Bilder. Dazu passt auch die von Piatti entworfene typografische Gestaltung einer Ausgabe des deutschen Grundgesetzes in schlichten, aber soliden Lettern ohne Zierrat und Schnörkel - er trifft so Geist und Charakter dieser besten deutschen Verfassung.

Der junge Mann im bunten Ringel-T-Shirt, allein auf irgendwelchen Stufen Gitarre spielend, war in tausenden deutscher Studenten-WGs der 60er und 70er zu sehen: Das Cover von Heinrich Bölls "Ansichten eines Clowns" sagte beinahe schon so viel aus wie der Roman über die Nachkriegsgesellschaft selbst. Zumindest war es die perfekte Illustration. Über das Titelbild von Heinrich Manns Klassiker "Der Untertan", auf dem sich der deutsche Duckmäuser tief vor einer dominierenden Reitergestalt verneigt, sagt in dem Bildband der Grafiker und Autor Christoph Niemann: "Erst später, als wir das Buch in der Schule gelesen hatten, fiel mir auf, wie geistreich das Designkonzept eigentlich ist: den Titelhelden nur so klein auf die Seite zu stellen und fast das ganze Blatt dem Objekt seiner Unterwürfigkeit zu überlassen, ist einfach brillant."

Sein Verleger und zugleich guter Freund Heinz Friedrich schrieb ihm 1991 im Rückblick: "Ich entbehre unsere produktiven Gespräche sehr. Hier wurden keine ,Dispositionen' getroffen, sondern hier ereigneten sich schöpferische Zündungen: Es ging um Kunst, nicht um ,Ausstattung'. Und das Publikum nahm teil an diesem künstlerischen Prozess, es applaudierte ihm - dreißig Jahre lang. Die drei Jahrzehnte, lieber Celestino Piatti, haben mein Leben, meine schöpferische Lebens-Erfahrung bereichert. Diese drei Jahrzehnte sind Teil meiner eigenen Existenz geworden. Diesen Teil werde und will ich mir bewahren - als fortwirkende Erinnerung."

Wenn es ihm lohnend erschien, stellte er seine Kunst gern in den Dienst der Politik

Der schöne Bildband zum 100. Geburtstag ist nach Piattis Motto betitelt: "Alles, was ich male, hat Augen." Hier wird nicht nur der Künstler, sondern auch der Mensch Piatti greifbar, vor allem in dem wunderbaren Porträt, das ihm seine Tochter Barbara Piatti widmet: "Oft werde ich gefragt: Der Mann hat ja so unfassbar viel gearbeitet - habt ihr ihn denn überhaupt je zu Gesicht bekommen? Oh ja, das haben wir. Mehr noch: Meine Schwester Celestina und ich hatten das Glück, einen sehr präsenten Vater zu haben. Zwischen Beruf und Familienleben wurde nicht getrennt, auch räumlich nicht, alles fand in einem Haus, auf mehreren Etagen, statt. Oben wohnten wir, unten arbeitete Celestino, die Tür zu seinem Atelier stand immer offen, weggeschickt wurden wir nie. Er nahm sich die Freiheit, mit uns mitten am Nachmittag ein Feuer am Waldrand zu entfachen und Würstchen zu braten, Ball zu spielen auf der Garageneinfahrt oder unsere Velos zu flicken und zu putzen. An seinen Aufträgen weitergearbeitet hat er dann eben nachts."

Piatti war ein gelassener, sympathischer Mensch. Heinz Friedrich beschrieb ihn als Mann, "der bäuerisch anmutete in Gestalt und Verhalten. Den Eindruck eines Künstlers machte er nicht, und er gab sich auch keine Mühe, diesen Eindruck zu erwecken." Und doch war er es natürlich, ein Künstler der bunten Farben, der Vielfalt, einer, den es reizte, Schönes neu zusammenzusetzen und zu interpretieren, auf dass es noch schöner werde oder ebenso schön auf neue Weise.

Aber das bedeutet nicht, dass er unpolitisch gewesen wäre. Die Politik, im liberalen Sinne verstanden als Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt, hat sein Werk mehr als nur gestreift, und wenn es ihm lohnend erschien, stellte er seine Kunst gern in ihren Dienst. So etwa 1966: "Wir Basler sind ritterlich und stimmen ja für unsere Frauen", dazu ein Männergesicht, das aus einem Helm mit hochgeklapptem Visier lugt, eine Rose zwischen den Zähnen.

Einige seiner schönsten Motive entwarf er für Zigarettenfirmen

Wahrscheinlich würde er heute auf Twitter für diese altväterlich anmutende Attitude gemobbt, aber damals hatte das postironische Zeitalter, dessen Bußprediger von Inhalten so viel erfassen wie eine Eule von ihrem Spiegelbild in Piattis Werk, noch nicht begonnen. Denn nichts als heitere Ironie drückt dieses Bild aus, nicht den Radikalismus maximaler Gesinnungsethik, sondern einen freundlichen Appell an die Basler, sich ihrer alten freiheitlichen Tugenden zu besinnen und beim Volksentscheid ihre Stimmen für das Frauenwahlrecht abzugeben. Das hatte der Kanton bis dahin tatsächlich nicht gekannt - und die Befürworter siegten, auch dank Piattis Plakaten, die an vielen Orten Basels hingen.

Bedenkt man im Lichte des Jahres 2021, wie wenig sich bundesdeutsche Wahlplakate in ihrer phänomenalen Spießigkeit seit Jahrzehnten verändert haben, dann begreift man erst wirklich, wie groß und mitreißend die Kunst Piattis schon damals war, vor mehr als 60 Jahren. Er selbst sagte einmal: "Es gibt kaum ein künstlerisches Ausdrucksmittel, das so schnell eine Form des Protestes für politische Zustände findet wie das Plakat." In gleicher Weise malte und zeichnete Celestino Piatti gegen Fremdenfeindlichkeit ("Wir brauchen diese Menschen, und sie brauchen uns") und Atomkraftwerke und 1968 für den Prager Frühling.

In der militärisch erfolgreichsten Epoche der Schweiz, dem ausgehenden Mittelalter, waren ihre mit Hellebarden, einem schrecklichen Zwitter von Streitaxt und Speer, gerüsteten Kämpfer die gefürchtetsten Infanteristen Europas. Sie stießen und hebelten Ritter von den Pferden, durchbrachen feindliche Reihen, sie hatten die Freiheit der Schweizer Eidgenossen von Habsburgs Übermacht erkämpft und waren fortan begehrte Söldner im Dienste diverser Könige, Fürsten, Warlords. Typisch für Piatti, dass er eine stilisierte Hellebarde, natürlich mit Augen, als Symbol des Schweizer Preises "Kraft der Zivilcourage" wählte, als wollte er sagen: Erinnert Euch der Anfänge. Denkt daran, wie aus Tapferkeit Brutalität, aus Idealen Verrohung erwachsen kann.

Heute wäre natürlich anstößig, dass er einige seiner schönsten Motive für Zigarettenfirmen entwarf: Ritter, Löwen, Dionysos beim genussvollen Paffen. Aber wie ist das nun mit der Eule, dem Lieblingsmotiv des Schweizer Künstlers? Piatti faszinierten, wie er erklärte, die großen Augen des Tiers, die alles zu erfassen scheinen. Freilich, 1992 bemerkte Piatti: "Man kann die Eule tausendmal zeichnen, an ihr Geheimnis kommt man nicht heran."

Celestino Piatti: Alles, was ich male, hat Augen. dtv München / Christoph Merian Verlag Basel. Herausgegeben von Barbara Piatti und Claudio Miozzari. 405 Seiten, 59 Euro.

Am 22. Januar 2022 begeht das Münchner Literaturhaus einen "Piatti-Tag".

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