Süddeutsche Zeitung

Brillen:Sehen und gesehen werden

Sie verjüngen, kaschieren - und erschaffen Typen: Kein Wunder, dass die Brillen von Maison Bonnet seit Generationen so viele prominente Köpfe zieren.

Von Julia Rothhaas

Wie eine Meerjungfrau mit nach hinten gefalteten Beinen posiert er auf drei Lederkissen, völlig nackt, mit ernstem Blick. Yves Saint Laurent gilt als schüchtern, doch für die Werbekampagne seines Dufts "Pour Homme" zieht er sich 1971 aus. Ein ikonisches Bild, wenn auch anders als geplant. Ursprünglich bittet der französische Fotograf Jeanloup Sieff den Designer, alles abzulegen - also auch die Brille. Auf die will der damals 35-jährige Saint Laurent aber auf keinen Fall verzichten, er zeigt sich nur mit seiner Maison Bonnet. Eine bessere Geschichte hätte sich kein Marketing-Experte einfallen lassen können, um ein Produkt zu bewerben. Doch diese hier ist wahr.

Das Bild hängt als Kopie im Werkstattkeller, doch nur mit Yves Saint Laurent muss der französische Brillenhersteller nicht angeben. Viele prominente Köpfe haben die Modelle bereits getragen: Politiker wie Jacques Chirac und François Mitterrand, Architekten Ieoh Ming Pei und Le Corbusier, Arthur Miller und Georges Simenon, Audrey Hepburn, Jackie Kennedy und Aristoteles Onassis. Heute gehören Autor Frédéric Beigbeder, Designer Alber Elbaz oder Model Naomi Campbell zu den berühmten Kunden des Hauses.

Wer den Laden in Paris gleich hinter dem Jardin du Palais Royal sucht, läuft erst einmal daran vorbei. Versteckt liegt er in einer winzigen Passage, hinter verdunkelten Scheiben, mit kleinen Schaukästen, die an Gucklöcher erinnern. Im Gebäude nebenan lagert das Gold der Banque de France. Drei Brillen liegen in der schwarzen Auslage, sonst sind nur die Rohmaterialien als Platte zu sehen, sanft beleuchtet wie Luxusuhren: Der Kunde bekommt hier eine maßgeschneiderte Brille auf die Nase gesetzt. Massenware gibt es nicht.

"Der Rahmen muss zum Gesicht und zur Person passen", sagt Franck Bonnet Anfang der Jahres bei einem Treffen in Paris. "Das ist die einzige Mode, die seit jeher für uns zählt." Gemeinsam mit seinem Bruder Steven führt der 48-Jährige den Laden im ersten Arrondissement, der Rest der Familie arbeitet in den Werkstätten im Burgund. Maison Bonnet ist ein Familienunternehmen in der vierten Generation, schon Urgroßvater Alfred war Brillenhersteller so wie jeder in dem kleinen Dorf Morez im Jura. Dort wurden die ersten Rahmen mit Bügel erfunden, die den Zwicker ablösten. Wie der Uropa lernten auch Großvater Robert und Vater Christian den gleichen Beruf.

Für jedes Gesicht ein eigenes Modell

Die Söhne Franck, Steven und John sollten eigentlich etwas anderes machen, nachdem das Handwerk in den Achtzigerjahren an Bedeutung verlor. Doch Christian konnte sich nicht durchsetzen, seine drei Söhne wollten auf das Brillenmachen nicht verzichten. Er selbst ist da ohnehin ein schlechtes Vorbild: Der Siebzigjährige sitzt bis heute am liebsten vor seinen Schleifinstrumenten, zurückgezogen in seiner Burgunder Werkstatt.

Das ursprüngliche Konzept ist geblieben: Für jedes Gesicht ein Design, jede Brille wird per Hand gefertigt. Ready-to-wear gab es in den Ursprüngen der Firma eben nicht. Das Handwerk hat sich seit den Dreißigerjahren nicht verändert, wohl aber die Technologie, mit der sich der Abstand zur Pupille, die Prominenz der Wangen oder die Länge der Wimpern abmessen lassen. Wie der Maßanzug, so auch die Maßbrille.

Das Außergewöhnliche an den Modellen von Maison Bonnet ist jedoch das Material. Die Brillen werden aus Schildpatt hergestellt. Ein altes Handwerk, das heute kaum mehr jemand beherrscht - und nur weiter ausgeübt werden kann, weil Christian Bonnet den Titel "Maître d'art" vom französischen Kulturministerium verliehen bekommen hat. Zum Titel gehört die Aufgabe, dieses Handwerk vor dem Aussterben zu bewahren. Es gehört zum immateriellen Weltkulturerbe Frankreichs wie die Aubusson-Wandteppiche oder die Herstellung von Parfüm im Pays de Grasse.

Mit dieser Ausnahmegenehmigung darf das Unternehmen mit dem außergewöhnlichen Rohstoff arbeiten, jedoch nur mit den alten Beständen, die sie Anfang der Siebzigerjahre noch kaufen konnten. Denn seit dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1973 ist der Handel mit Schildpatt verboten, zu Recht. Weltweit gibt es nur noch sieben Arten von Meeresschildkröten wie etwa die Echte Karettschildkröte, die Spezies ist massiv vom Aussterben bedroht. Um an das Schildpatt zu kommen, wurden die Platten einst mit Wärme vom Panzer abgenommen, die Tiere kamen dabei meistens ums Leben.

Schildpatt ist ein sehr leichtes Material, das durch Erwärmen elastisch und formbar wird. Damit daraus eine Brille werden kann, müssen verschiedene Schichten übereinandergelegt und miteinander verschmolzen werden. Dadurch entsteht die einzigartige Färbung, die sich nicht reproduzieren lässt. Zehn Töne bekommen sie hin - von dunkelgrau bis strohblond, der Seltenste, weil nur noch wenige Panzerstücke übrig sind in dieser Farbe. Bevor man an den übereinandergelegten Schichten arbeiten kann, müssen sie trocknen. Das dauert mehrere Wochen, je nachdem, ob man zwei Millimeter Dicke benötigt für einen Bügel oder sieben Millimeter für einen Nasensteg. Auf seine fertige Brille muss der Kunde in der Regel acht Monate warten. Kosten ab 1800 Euro aufwärts.

Die Brillen kaschieren sogar Tränensäcke und verjüngen

"Mein Vater betont immer, wenn man ein Gesicht genau ansieht, sei die Brille eigentlich schon fertig", sagt Franck Bonnet. Dafür wird das Gesicht des Kunden nicht nur exakt vermessen, die Bonnets wollen ihn auch besser kennenlernen, um das perfekte Modell zu kreieren: Wie groß ist jemand und wie breit? Wie kleidet er sich? Was macht jemand beruflich, trägt er die Brille ständig oder zieht er sie nur gelegentlich auf? Will er strenger aussehen oder weicher? Und hat er einen Hund daheim - die kauen nämlich gerne auf Gestellen herum.

Anderthalb Stunden muss sich jeder Kunde für den ersten Termin freihalten, auch die ganz prominenten. Ein bisschen können sie sogar zaubern, denn mit einem auf das Gesicht angepassten Modell kann man manchen Makel kaschieren. "Wer Tränensäcke unter den Augen hat, bekommt einen Rahmen, hinter dem man die nicht mehr sehen kann. Und voilà: Die Person sieht gleich viel jünger aus."

Im Anschluss fließen alle Ideen in die Zeichnungen ein, jede Brille wird per Hand skizziert und daraufhin der Rohling angefertigt. Beim zweiten Treffen geht es um Millimeter: Der Rahmen sollte die Wangen nicht berühren, sonst laufen die Gläser schneller an. Die Wimpern dürfen nicht an die Gläser stoßen. Und natürlich muss die Brille dem Kunden gefallen. Die Modelle sind dezent, kein Logo, klassische, unauffällige Designs. "Wir machen natürlich auch dicke Rahmen, so wie für Onassis damals", sagt Franck Bonnet. Auf der Nase drückt es am Ende aber nicht. "Wir verteilen das Material so, dass sich eine Brille viel leichter anfühlt, als sie eigentlich ist." Lediglich die englische Kundschaft in der vor fast zwei Jahren eröffneten, bislang einzigen weiteren Filiale in London, mag es lieber ausgefallen.

Brillen von der Stange? Keine Lust

Während Urgroßvater, Großvater und Vater ihr Leben lang ausschließlich Brillen aus Schildpatt fertigten, haben sich die Söhne für zwei weitere Materialien entschieden, um das Unternehmen mit seinen 20 Mitarbeitern in die Zukunft zu führen: Horn und Acetat. Das sei nicht nur eine Preisfrage, sondern hänge auch mit Gebrauch und Geschmack zusammen. Horn gibt es nur in Schwarz, Braun, Grau - ausgefallenere Farben bekommt man nur mit Acetat hin. Zu diesem widerstandsfähigeren Material raten sie auch, wenn ein Kunde kleine Kinder hat oder die Brille häufig abzieht. Dann sei die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass sie mal auf den Boden fällt.

Auch in Sachen Design haben sich die Jungen etwas Neues einfallen lassen, damit sich ein paar mehr Menschen eine Maison Bonnet leisten kann. Von 800 Euro an bekommt man eine Brille aus einer Mini-Serie, pro Design gibt es jedoch nur zwei Stück pro Shop. "Auf unserer Webseite schreiben wir zwar, dass wir zwanzig identische Modelle als 'Ready-to-fit' im Laden liegen haben, die als Gestell schon existieren und nur noch dem Gesicht angepasst werden müssen wie beim normalen Optiker. Nur leider machen unsere Handwerker nicht mit: Die haben einfach keine Lust, Brillen in Serie herzustellen", sagt Franck Bonnet.

Etwas teurer ist die "Made to Measure", also ein vorliegendes Design, an dem nur winzige Änderungen vorgenommen werden, eine Art Kompromiss-Maßanfertigung. Da werden Brücken an die Nase angepasst, Farben verändert, Rahmen größer, Bügel breiter.

Dass sie irgendwann nur Brillen aus Acetat und Horn herstellen können, darüber machen sich die Bonnets keine Sorgen. "Wir haben noch ein paar Hundert Kilogramm Patt, allesamt alte Bestände", sagt Franck Bonnet.

Für die Zukunft hat der quirlige Mann ohnehin andere Ideen: Damit die Tradition der Moderne standhalten kann, arbeitet er an handgefertigten Modellen, in die man unsichtbare Gadgets stecken kann: im Bügel ein Lautsprecher, im Rahmen ein Mikrofon, hinter dem Glas ein Bildschirm. Innovation könne heute eben mehr sein als nur eine Brille mit Bügeln.

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Quelle:
SZ vom 02.05.2020/vs
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