Der ganze Raum riecht wie ein Glas Campari-Orange. Es duftet nach frisch gepressten Orangen aus Sizilien. Dazu kommen Zitronensaft, Campari und ein Schuss Angostura-Bitterlikör. Paolo Coletto verrührt die Flüssigkeiten mit drei Zuckersorten, mixt alles in einem 20-Liter-Kübel kräftig mit einem elektrischen Riesenquirl durch und kippt den orangerot leuchtenden Rohstoff dann in eine der drei Eismaschinen, die in seinem engen Labor stehen. Durch ein Sichtfenster kann man beobachten, was sich im Inneren der Maschine tut. Binnen Minuten verwandelt sich die Flüssigkeit in cremiges Eis. Und Coletto umreißt nun mit lyrisch inspirierter Wolkigkeit, wie die Sorte schmecken wird: "Süß und bitter, man soll dabei die dunkle Seite des Mondes erleben."
"Eismachen ist für mich wie Yoga"
Für Paolo Coletto, so viel wird klar, ist Eismachen mehr als ein Job. Wenn es um seine Arbeit geht, redet er sich heiß. Und während er das Orangen-Campari-Sorbet mit einem Spatel aus der Maschine kratzt und in metallene Kessel streicht, ist er mit seinen Ausführungen schließlich bei der "Metaphysik des hausgemachten Eises" angelangt. Entschuldigung, wie war das? Doch, man hat ganz richtig gehört. Coletto behauptet, die Zutaten für seine Sorten seien Lebewesen, die er beim Eismachen kennenlernt: "Das sind keine bloßen Zutaten, das sind alles verschiedene Teile der Natur, mit denen ich in Beziehung trete." Durch ihn "werden sie eins, zu Eis". Nun, womöglich war es ja nur eine Frage der Zeit, bis die Eismacher angesichts des neuen Kults um ihr altes Handwerk im esoterischen Irgendwo landen.
Doch Paolo Coletto meint das alles sehr ernst. Und tatsächlich, wer sich einen Nachmittag lang auf ihn einlässt, ihn bei der Eisproduktion begleitet, der beginnt seine Geschichte zu verstehen. Und mit ihr seine unorthodoxe Sicht auf das Handwerk.
"Eismachen ist für mich wie Yoga", sagt Coletto. Er trägt goldene Ohrringe zu schwarzem Zopf, seine kleinen schwarzen Augen blitzen, wenn er redet, die Mundwinkel deuten ein verschmitztes Lächeln an. Der 59-jährige Italiener erinnert ein bisschen an einen Oompa Loompa, jene im Arbeitsrhythmus tanzenden Helferlein in "Charlie und die Schokoladenfabrik", nur eben viel größer. Was auch daran liegen mag, dass Coletto wie ein Oompa Loompa im einfarbigen Arbeitsanzug durch sein Labor wirbelt, sein Körper bewegt sich bei der Sorbetproduktion im Takt zu lauten Techno-Beats. Man könnte darüber fast vergessen, dass dies hier die Küche einer Eisdiele ist - das winzige Hinterzimmer der Bozener "Officina del Gelo Avalon".
Colettos Faible für Yoga, Spiritualität und asiatische Gewürze hat tiefere Wurzeln. "Vor zwölf Jahren war ich sehr sauer auf Gott und fuhr nach Indien, um dort einen Guru zu finden", erzählt er. Er fand ihn in Südindien: Sadhguru Jaggi Vasudev lehrt eine Kombination aus klassischem Yoga und Meditationstechniken. Bis heute reist Coletto jeden Winter, wenn seine Eisdiele geschlossen ist, für längere Zeit zu Sadhguru, um bei ihm zu meditieren - und von jeder Indienreise bringt er neue Gewürze, Ideen und Zutaten für sein Eislabor mit.
Dazu Kokos und Schokolade:Eiskaffee "Pimped Frappuccino"
Konzentrierter Genuss mit Kokoseis, Schokoladensplittern und Kaffeekonzentrat.
Der Guru öffnete ihm die Augen für neue Sorten wie Avocado-Ziegenmilch oder Matcha-Tee
"Ich bin sowieso ein neugieriger Mann", erklärt Coletto, "und Sadhguru hat mir noch mal die Augen geöffnet für Neues." Ein kleiner Altar mit einem Bild des Gurus steht links am Tresen, daneben eine dreieckige, orange Kerze. Auf sechseckigen Tafeln an den Wänden leuchten die Sorten auf, die es gerade gibt: Ingwer-Bergamotte, Zitrone-Wacholder, marokkanische Minze, Matcha-Tee, Persia mit Safran und Pistazien, Bombay Dream, Avocado-Ziegenmilch, Hirsemilch mit gerösteter Gerste. Die Sorte Cioccolato Sambirano ist wegen ihrer Chili-Schärfe mit einem Totenkopf versehen. Es gibt aber auch Klassiker wie Vanille, Erdbeere und Mango. Ungefähr 30 Geschmacksrichtungen sind immer verfügbar.
Das Eis hält Coletto in runden Metallkübeln mit Deckeln bereit, wie das in klassischen italienischen Eisdielen üblich ist. Coletto hat nichts übrig für die grelle Präsentation vieler Cafés, für ihre knallfarbene, ölig glänzende Eiscreme, die offen in den Vitrinen auftürmt wird, um die Laufkundschaft zu beeindrucken. Er findet: "Das erhöht vielleicht den Umsatz, ist aber ganz schlecht für die Struktur der Eiscreme."
Sein Laden liegt nicht in der Bozener Altstadt, wo die meisten Touristen und Einheimischen unterwegs sind, sondern etwas außerhalb, im italienischen Teil der Stadt an der Freiheitsstraße. Vor der unscheinbaren Eisdiele stehen ein paar Plastikstühle unter den Arkaden, innen ist gerade mal genug Platz zum Stehen für zehn, zwölf Kunden. Während sein Sohn Gabriele vorne im Laden Eis in Waffeln und Plastikbechern verkauft (pro Kugel 1,70 Euro), werkelt Paolo Coletto hinten im Eislabor vor sich hin. Er hat über Jahre experimentiert für den besonders authentischen Geschmack seines Schokoladen- und Himbeereises. Sorten wie marokkanische Minze oder Matcha-Tee mögen wie Trendsorten klingen, doch es geht ihm um Geschmack, nichts verabscheut Coletto so sehr wie Moden. Das ist ihm wichtig. Deshalb hat er seine Eisdiele auch nicht Gelateria genannt, sondern Officina del Gelo - Eis-Werkstatt. In Italien ist das Eismachen ja ein offizieller Lehrberuf mit strengen Vorgaben. Mögen viele andere ruhig mit Milchpulver und Fertigpasten in verschiedenen Geschmacksrichtungen hantieren. Dafür hat sich Coletto seinen Meisterbrief nicht gerahmt an die Wand gehängt.
Die Bozener Eisdiele gibt es bereits seit 1981; Paolo Coletto hat sie zusammen mit seinen Eltern eröffnet. Vom Eismachen hatte er damals noch keine Ahnung. "Ich hatte ein Blatt Papier mit den Zutaten für sechs Sorten, sonst nichts ", erinnert er sich. Seine Mutter Elvira stammt aus der Nähe von Cortina d'Ampezzo, nicht weit von Longarone in den Dolomiten, wo traditionell die besten Eismacher Europas herkommen. Nach und nach kamen ihm dann die Ideen für seine kuriosen Kreationen, "die meisten davon zufällig, wie für ein Gedicht".
Die Zutaten sollen möglichst naturnah und in Bio-Qualität sein
Streicht man etwas Pathos, kann man wohl sagen, dass Colettos Spiritualität sich am ehesten in seinem Verhältnis zur Natur zeigt. Auch andere Eismacher reden von Natürlichkeit, doch Coletto scheint für die Suche nach optimalen Zutaten zu leben. Die meisten bezieht er aus Südtirol. Fast täglich besucht er seine Produzenten. Die Erdbeeren kommen aus dem Martelltal, die Himbeeren aus Völs am Schlern, die Eier vom Gampenhof in Aldein, die Johannisbeeren aus dem Vinschgau - Mangos, Datteln und andere Exoten bezieht er von den weltweit besten Quellen. Safran aus Iran, Pistazien aus Bronte in Sizilien, Vanille aus Madagaskar. Die Milch wiederum ist ein eigenes Thema. Pulver käme für ihn nie in Frage. Coletto bezieht seine Milch vom Parggenhof im Hochpustertal, wo die Kühe besonders schmackhaftes Heu fressen. Und die Ziegenmilch für sein Avocado-Vanilleeis stammt vom Hof des Ziegenzüchters David Perathoner in Tanirz. Alles soll möglichst naturnah sein, möglichst in Bio-Qualität. Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe und Emulgatoren? Es wäre eine Beleidigung, ihn danach zu fragen.
Seine Eissorten seien nicht einfach Eissorten, sagt Paolo Coletto, sie seien ein Fenster zu seiner Seele, denn "sie spiegeln die Entwicklung meines Lebens wider." Bewusstseinserweiterung, Yoga und Optimierung der Eissorten - alles dieselbe Baustelle, findet er. Es geht ihm um nichts weniger als absolute Harmonie. "Alles muss zueinander passen, keine Zutat darf sich in den Vordergrund drängen, keine darf untergehen." Das Eis scheint davon zu profitieren. Nach jahrelanger Tüftelei ist er nun auch zufrieden mit der Konsistenz von Bombay Dream: Die Reiskörner sind noch wahrnehmbar, man muss sie aber nicht kauen, Anis, Zimt und Zucker harmonieren perfekt mit den restlichen Zutaten. Die Vollkommenheit werde er aber wohl nicht erreichen in diesem Leben, sagt Coletto.
Wer sich allerdings etwas von seinem Orangen-Campari-Sorbet auf die Zunge löffelt und es dort schmelzen lässt, muss zugeben: Er ist nah dran. Es schmeckt süßsauer und bitter, man hat den Duft von Orangen in der Nase und meint die Eiswürfel im Campari-Glas klimpern zu hören, obwohl man gar keines in der Hand hält. Sollte das die dunkle Seite des Mondes sein?