Konsum:Werbepause

Konsum: Zweckentfremdet: Eine Werbetafel wurde zum Hilfsmittel bei der Pandemiebekämpfung. Aber was kommt danach?

Zweckentfremdet: Eine Werbetafel wurde zum Hilfsmittel bei der Pandemiebekämpfung. Aber was kommt danach?

(Foto: Aaron M. Sprecher/AP)

Klassische Leuchtreklame und Plakatwände kommen aus der Mode. Damit geht in unseren Städten etwas Wichtiges verloren: Gemeinsame Bezugspunkte in der Öffentlichkeit.

Von David Pfeifer

Werbung ist immer ein Versprechen. Hier könntest du hinreisen, jenes könnte dich schöner machen, so könntest du leben, wenn du dich für dieses Produkt entscheidest. Natürlich sind diese Versprechen häufig Lügen, doch manchmal ist eine schöne Lüge besser zu ertragen als die graue Wahrheit. Auf den Werbeflächen der Großstädte, den Plakatwänden und U-Bahn-Anzeigen ist nun häufig gar nichts mehr zu sehen. Die Konzerte abgesagt, Reisen schwierig geworden, wer braucht schon Kosmetik und schöne neue Mode, wenn man nicht mehr vor die Tür gehen soll. Wo früher wenigstens noch ein Motiv mit dem Motto "Außenwerbung wirkt" zu sehen war, ist heute häufig: nichts. Nicht mal Werbung für Werbung hängt da, eine Welt ohne Verführungsversuche. Konsum ist in der Pandemie, wenn man sich in Freizeithosen auf Amazon die Angebote anderer Freizeithosenhersteller ansieht, die einem auch gefallen könnten. Die Frage ist: Geht ohne Werbeplakate etwas verloren?

Wer derzeit zum Beispiel in Bangkok vom Flughafen in die Stadt fährt, passiert leere Werbetafeln, an einigen flattern noch alte Beklebungen im Monsun. Es sind keine Plakatwände, wie man sie aus Deutschland kennt, sondern riesige Flächen, Billboards in Cinemascope. Im Kino hat dieses Format immer das Verspechen beinhaltet, den Erlebnishorizont der Betrachtenden zu erweitern. Auch wenn es sich um künstliche Welten handelte, in denen Rauchen gesund und Saufen sexy war. Dass diese Werbeflächen nun inhaltslos und grau an einem vorbeifliegen, während man auf dem hochgestelzten Beton-Freeway fährt, lässt sich leicht als Symbol vom Ende des Konsumkapitalismus lesen. Im Film "Three Billboards outside Ebbing, Missouri" sind die drei Flächen zunächst ohne Motiv oder Botschaft, um zu zeigen, dass es sich an diesem Ort nicht mehr lohnt, Reklame für irgendwas zu machen. Als Gemeinschaft sind die Menschen in Ebbing einfach keine werberelevante Zielgruppe mehr. Als dann etwas drauf geschrieben steht, auf den Tafeln, quietschen die Reifen, weil die Vorbeifahrenden in die Bremse treten. Sie sehen den öffentlichen Raum, also auch ihren Raum, gestört.

Konsum: "Stay home!" steht auf diesen Billboards in Toronto. Damit machen sich die Schautafeln selbst obsolet.

"Stay home!" steht auf diesen Billboards in Toronto. Damit machen sich die Schautafeln selbst obsolet.

(Foto: All mauritius images/mauritius images / James Wagner)

Außenwerbung und Mobilität gehören zusammen. Die Zukunftsbegeisterung der Fünfziger- und Sechzigerjahre drückte sich im Westen darin aus, dass jeder, der konnte, ein Auto kaufte und fortan mit seinem eigenen kleinen Lebensentwurf in der Welt unterwegs war. Billboards entwickelten sich parallel zu dieser neuen Dynamik. Die Menschen waren in Bewegung, und man konnte ihnen nur noch verdichtete Botschaften zuwerfen, die sie im beschleunigten Augenblick verstanden. In Los Angeles, das auch deswegen in die Fläche expandierte, weil die Menschen automobil wurden (während New York, der grimmige Bruder im Osten, in die Höhe wuchs), prangten bald riesige Teig-Kringel aus Pappmaché über Donut-Läden, oder ein schlauchbootgroßer Hot Dog über einem Fast-Food-Restaurant, in dem man das Essen selbstverständlich ins Auto gereicht bekam. Die Werbung reduzierte sich auf Kernreize und Symbole, die sich schnell entschlüsselten und die bestenfalls den Wunsch weckten, anzuhalten.

Viele der klassischen Werbebotschaften sind heute widersprüchlich geworden

Plakate und Billboards lösten den Werbereiz und seine unmittelbare Befriedigung voneinander. Sie sollten Emotionen wecken, ein Begehren erzeugen, das bis in den nächsten Laden hält. Ein Softdrink, so erfrischend, dass sich lasziv Kondenstropfen daran sammeln, ein Waschmittel, das sauber und glücklich macht, eine Zigarette, die Freiheit verspricht. In Werbeagenturen spricht man in diesem Zusammenhang von Welten, die man kreieren muss. Südsee-Eskapismus für Kosmetik, weite Landschaften für Autos, Wolkenkratzer für Hochprozentiges. Der Film dazu läuft im Kopf der Betrachtenden, man selber spielt darin im besten Fall die Hauptrolle.

Dass solche Botschaften nun an Bedeutung verlieren, könnte man auch als ganz gesunde Reaktion interpretieren. Die Werbe- und Konsumwelt war schließlich an einem Punkt angekommen, an dem sie über ihr eigenes Wohl hinaus beschleunigt worden war. Welche Flugreise darf heute noch ohne schlechtes Gewissen gemacht werden? Rauchen sollte schon lange niemand mehr, Alkohol ist ebenfalls sehr ungesund, und wer um alles in der Welt kauft sich noch ein neues Auto? Viele der klassischen Werbebotschaften, zumal die großen, glitzernden, sind inzwischen verboten, anrüchig oder mindestens widersprüchlich geworden. Bier trinken und aktiv sein, rauchen und gute Haut haben, SUV fahren und Sprit sparen. So was.

Über Auto- oder Unterwäsche-Werbung im öffentlichen Raum wurde sich manchmal ebenso aufgeregt wie über die Botschaften in Ebbing, Missouri. Plakatwände werfen ihre Informationen eben in die Gesellschaft und sind so gestaltet, dass sie auch emotional wirken. Aber dass man sich über sie aufregen konnte, schloss zumindest die Möglichkeit einer Diskussion ein. Sogar die eher kapitalismuskritische taz mahnte vor ein paar Wochen, "wer Werbetafeln demontiert, demontiert auch einen Teil der Öffentlichkeit". Anlass war die Absicht vieler Städte, gegen die visuelle Umweltverschmutzung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums vorzugehen. Dass die Flächen in der Pandemie oft leer bleiben und dabei so störend im Blick stehen wie ein abgeschalteter Flatscreen, hat ihrem Image nicht geholfen. Wenn sie nun abgebaut werden, verschwinden damit aber nicht nur die Botschaften, sondern auch ein Stück gemeinsam genutzter Erlebnisraum. Laut taz ist das "Ausdruck kulturellen Leerstands".

Es war nicht das Virus alleine, das die klassischen Billboards leergefegt hat. Schon vorher hatten sich die Gesellschaft und mit ihr die Werbeformen verändert. LED-Werbetafeln ragen in asiatischen Megacitys mittlerweile hochkant an Hochhäusern empor, sie hängen unter den Beton-Freeways, wo man im Stau steht, tagsüber sind sie häufig abgeschaltet, aber wer sich durch die abendliche Rushhour schiebt, wird von ihnen penetrant angeblinkt. Google arbeitet längst daran, die Inhalte zu individualisieren. Wer seinem Smartphone zu viele Informationen überlässt, wird das bald auch in der Interaktion mit Werbeflächen erleben können. Digitale Leuchtreklame ist nicht nur vielseitiger, man kann auch schneller ein neues Motiv einspeisen, sich den Gegebenheiten und den Preisen anpassen. An einigen dieser Blinkflächen in Bangkok werden momentan in Echtzeit die Impfquoten angezeigt. Aus anderen fauchen Drachen oder fliegt ein Bienenschwarm in 3-D auf die Betrachter zu, um für Energy-Drinks oder Honig zu werben.

Tokio war die Inspiration für die Kulisse des Science-Fiction-Klassikers "Blade Runner", doch heute wirken auch Singapur, Bangkok und Jakarta so, als würden die digitalen Leuchtreklamen den Mond ersetzen. Wer seine gebratenen Nudeln im nächtlichen Nieselregen neben einer Autobahnbrücke isst, grell beleuchtet von einer blinkenden Werbetafel, fühlt sich angekommen in der Zukunft von gestern. Das wird natürlich auch in Europa so werden, wenn die Pandemie mal vorbei ist und die Werbeausgaben wieder steigen, so wie es prognostiziert wird. Gegen die dystopischen Leuchtbotschaften wirken Plakatwände wie statische Schautafeln aus der Vergangenheit, auch wenn sie im Jahr 2019 immerhin noch mehr als 60 Prozent der Ausgaben für Außenwerbung in den USA ausmachten.

Konsum: Leerstellen: Einst voll mit bunten Kaufanreizen, heute öde Brachflächen - Plakatwände in Bangkok.

Leerstellen: Einst voll mit bunten Kaufanreizen, heute öde Brachflächen - Plakatwände in Bangkok.

(Foto: David Pfeifer)

Der wahre Feind der Außenwerbung ist allerdings die Innenwerbung, die Mikrokosmen der hyperindividualisierten Ansprache. Heute sitzen die Konsumenten hinten im Uber, im Bus oder der Bahn, lassen sich transportieren und bleiben doch in ihrer Welt, sie blicken ständig auf ein kleines Gerät, das sie so fesselt, dass kein Außenreiz mehr durchdringt. Ein großer Teil der Menschen hatte sich schon lange vor der Pandemie mit Bildschirmen umstellt, auf denen nur noch zu sehen ist, was den persönlichen Präferenzen entspricht. Die eigene Meinung auf Facebook oder Twitter verstärkt, der Geschmack auf Netflix unendlich befriedigt - wird aber vielleicht etwas fad, nach einiger Zeit, wenn man nur noch Sachen vorgesetzt bekommt, die einem irgendwie entsprechen.

Es ist nicht das Ende des Konsumkapitalismus, sondern des gemeinsam erlebten Raums

Wenn also eine Dystopie real geworden ist, dann eher "The Matrix" als "Blade Runner". Das ist natürlich ein Fest für die Werbetreibenden, die in jeder "Könnte Ihnen auch gefallen"-Spalte noch ein Angebot platzieren können. Die gezielte Werbung, die erst durch mächtige Datensammler wie Google und Facebook möglich wurde, adressiert Konsumenten genau dort, wo die Schwächen verborgen liegen. Wer nach Kalorien sucht, bekommt bald ein Angebot für Fitnessgeräte oder Diäten in die Timeline gespült. Wer nach etwas anderem gesucht hat, darf sich vielleicht über verschreibungsfreie Potenzmittel freuen. Der Konsum ist nicht so sehr zurückgegangen, sondern ins Allerprivateste gewechselt, und mit ihm die Werbung.

Solche Angebote sind natürlich hocheffizient, sie blicken durch ein Guckloch in den Teil des Lebens, den man lieber nicht vor anderen ausbreiten würde. Sie sind also das Gegenteil der gutmütig-offenen Werbeflächen, die auf die Breite zielen und einen Raum in der Öffentlichkeit bespielen. Manchmal sogar Raum für Fantasie bieten. Vielleicht fehlen einem die Plakatierungen deswegen - nicht weil man den Konsum vermisst oder die Produkte, sondern sich selbst darin, wenn auch nur für kurz, im Vorbeifahren. Man konnte damit träumen, von einem Konzert, das man besuchen wollte, von einer Reise, die einen verändern würde, von magischen Geräten, die das Leben leichter machen. Von Wodka-Martinis auf Dachterrassen von Wolkenkratzern.

Es ist ja eben nicht das Ende des Konsumkapitalismus, das durch die leeren Billboards verkündet wird, sondern das Ende der individuellen Mobilität und des gemeinsam erlebten Raums. Das muss man nicht beweinen, kann man aber betrauern, so wie die Telefonzellen, die auch keiner mehr brauchte, die man aber schmerzlich vermisst, wenn man doch mal ohne Smartphone irgendwo strandet.

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