In einer der ersten Szenen des französisch-italienischen Filmklassikers "Das große Fressen" versammeln sich die Schauspieler Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Philippe Noiret und Ugo Tognazzi um einen langen Holztisch in der Küche. Es geht um vier Freunde, die alles daran setzen, sich mit einer ausgedehnten Orgie umzubringen. Auf dem Tisch werden später etliche Pasteten, Torten, gebratene Hühner und andere Speisen zubereitet, die der Gruppe zum Suizid verhelfen sollen.
Die Männer sind gerade erst im Landhaus angekommen und genehmigen sich den ersten Snack: ausgekochte Schweineknochen. "Schon als Kind habe ich die immer gegessen", erklärt Tognazzi, nimmt einen der Knochen in beide Hände und saugt genüsslich wie geräuschvoll das Mark heraus. Mastroianni tut es ihm gleich, wenn auch eleganter. Er kratzt das weiche Mark mit dem Besteck heraus.
Das eigentliche Fressen kündigt sich hier erst an, doch für Fergus Henderson ist es die Schlüsselszene. Hätte Regisseur Marco Ferreri sie nie gedreht, hätte er sich gegen Knochen und sagen wir mal für Pastete entschieden - Henderson wäre heute wohl nicht der Ur-Vater der "Nose-to-Tail-Küche". Und vermutlich wäre er damit auch nicht verantwortlich für eine kulinarische Bewegung, die sich von London über New York bis nach Los Angeles ausgedehnt hat und auch in Deutschland angekommen ist, etwa im baden-württembergischen Braunsbach.
So aber, erzählt der britische Koch an diesem nasskalten Vormittag in London, habe er mit dieser Filmszene das Fundament für eine - ohne das Wort werden wir nicht auskommen - kulinarische Philosophie gefunden: "Nose to Tail" (etwa: Schnauze bis Schwanz) ist im Grunde eine alte Notwendigkeit, die in der Überflussgesellschaft leider aus der Mode gekommen war. Es bedeutet, absolut jeden (essbaren) Teil des geschlachteten Tieres zuzubereiten und zu verspeisen. Und sich zu weigern, irgendetwas in den Müll zu schmeißen.
Geröstetes Knochenmark als Markenzeichen
Das im Ofen geröstete Knochenmark sollte der heute 50-jährige Henderson viele Jahre nachdem er es im Film entdeckt hatte, zu seinem Signature-Dish, seinem Markenzeichen, machen, was ihn wiederum sehr viele Jahre später und nach Veröffentlichung eines Kochbuchs in Küchen auf der ganzen Welt berühmt machte. Henderson , ein großer, kräftiger Mann, hat zum Interview in sein minimalistisch-weißes Restaurant "St. John" im Londoner Stadtteil Smithfield gebeten. Es ist erst elf Uhr vormittags, aber der Koch nippt bereits an einem Madeira, zu dem er warmen Sandkuchen aus der eigenen Bäckerei isst. Für seinen bekanntesten Teller nehme er aber nicht Schweineknochen, sondern Kalb, erklärt er. ",Roasted Bone Marrow' ist das einzige Gericht, das wir seit 20 Jahren täglich auf der Karte haben." Den Gästen wird es nur mit Röstbrot, Petersiliensalat und grauem Meersalz serviert.
Abgesehen vom gerösteten Knochenmark wechselt das Menü im St. John jeden Tag komplett. Die Natur, hat man Henderson oft zitiert, schreibt bei ihm die Speisekarte. Fasane, Hasen, Kaninchen, je nachdem was gerade Saison hat oder geschossen wurde. Lamminnereien werden ebenso angeboten wie ganze Wachteln, knusprige Schweinehaut, Schweineohren, Schweinefüße. "Wenn man ein Tier tötet", sagt Henderson, "ist es nur höflich, es komplett zu verwerten." Das Schwein ist trotzdem die Spezialität und das Lieblingstier des Kochs, es schmückt auch sein Logo, zur Marke gehören mittlerweile unter anderem ein zweites Lokal sowie ein Hotel. "Es gibt, glaube ich, kein Foto von mir, auf dem nicht auch ein Schwein zu sehen ist," sagt er und grinst.
Schweineohren sind nun auch Trend in Manhattan
In Großbritannien ist Fergus Henderson ein Star, ein Aushängeschild guter, britischer Küche (ja, es gibt eine solche). Auf das Konzept des St. John, das seit 2009 einen Michelin Stern trägt, schielen inzwischen Köche aus aller Welt, vor allem in New York, aber auch in Los Angeles und deutschen Feinschmecker-Regionen.
Wie einen Designer, der seine Kollektion gewissermaßen über Nacht bei Zara eins zu eins kopiert hängen sieht, imitiert man den 50-Jährigen, der nie eine klassische Kochausbildung absolviert hat. Seine Freundin April Bloomfield etwa brachte die Nose-to-Tail-Idee nach Manhattan und serviert Gerichte wie Salat mit knusprigen Schweineohren in ihrem Gastro-Pub "Spotted Pig" - damit hat sie geschafft, was gefeierten männlichen Kollegen wie dem Briten Gordon Ramsay nicht gelang: New York steht Schlange für einen Tisch bei ihr. Bloomfield (Autorin eines Kochbuches, das - natürlich - "A girl and her pig" heißt) und Henderson arbeiten häufig zusammen und gründeten zuletzt das kulinarische Festival "Fergusstock".
Wenn Restaurants wie das "Prunes" in New York "Roasted Bone Marrow" ebenfalls mit Petersiliensalat, Röstbrot und Meersalz auf ihrer Karte haben, wenn sich das Nose-to-Tail-Lokal "Animal" in Los Angeles gerade mit Gerichten wie Kalbshirn und Karotten eines enormen Hypes erfreuen, sieht Henderson das gelassen. Er wirkt nur kurz peinlich berührt - und erzählt von albernen Interpretationen seines Konzepts, wie dem halbrohen, ungenießbaren Schafskopf, den man ihm in New York einmal vorgesetzt habe. "Was wir hier machen ist delikat und feminin, nicht rau und hart", stellt er sachlich fest.