Süddeutsche Zeitung

Besuch in der "Enoteca Maria" in New York:In diesem Restaurant sind Großmütter die Chefköchinnen

Kann man das Gefühl zurückholen, das man als Kind am Esstisch hatte? Ein New Yorker versucht es. In seiner "Enoteca Maria" stehen Omas aus aller Welt am Herd.

Von Johanna Bruckner, New York

Italienische Kultur ist außerhalb Italiens oft vor allem erkennbar an, man muss das so hart sagen, geschmackloser Deko. So auch in der "Enoteca Maria" in Staten Island, fünf Minuten von der Fähranlegestelle entfernt, an der täglich Tausende Besucher aus Manhattan ankommen. An den Fenstern des kleinen Lokals kleben künstliche Weinblätter, im Regal steht eine Porzellanfigur, die ein Schnapsglas geschultert hat, und an der Wand hängt das Porträt eines Mannes, der frappierende Ähnlichkeit mit Silvio Berlusconi hat - tatsächlich handelt es sich um einen kanadischen Sänger. Die Inneneinrichtung mag zweifelhaft sein, das Konzept der "Enoteca Maria" ist äußerst charmant: Statt professioneller Köche stehen hier jeden Tag Großmütter am Herd.

Auf die Frage, wie er auf die Idee für sein Restaurant gekommen sei, sagt Besitzer Jody Scaravella: "Trauer". Als innerhalb kurzer Zeit seine Eltern und Großeltern starben, suchte er einen Weg, sich ein Stück Familie zurückzuholen. "Ich wollte dieses Gefühl schaffen, das man hat, wenn man nach Hause kommt, die Oma hat gekocht und die ganze Familie kommt zum Essen zusammen."

Scaravella, grauer Vollbart, Cargohose, T-Shirt, ist in Brooklyn als Kind italienischer Einwanderer aufgewachsen. Seine Großmutter Domenica sei das Familienoberhaupt gewesen, erzählt er. Jeden Tag habe sie sich mit ihrem Einkaufswägelchen aufgemacht zum Markt, habe am Obststand Pfirsiche und Kirschen probiert - und die Ware mit einem verächtlichen Blick ausgespukt, wenn sie nicht ihren Ansprüchen genügte. Heute übernehmen in seinem Restaurant Frauen aus aller Welt die Rolle der strengen, aber immer herzlichen Matriarchin. Frauen wie Adelina.

Die Neapolitanerin hat sechs Kinder, vier Enkel und das, was der Amerikaner eine no-nonsense attitude nennt. Mit Kinkerlitzchen kommt man der Italienerin besser nicht, ein Lob ihrer Kochkunst wischt sie mit einer Handbewegung weg. Kam es denn schon vor, dass sich Gäste beschwert haben? Adelina zieht eine dunkle Augenbraue hoch: "Es gibt Leute, die das Essen nicht gewohnt sind."

Mariella aus Venezuela, Diana aus Palästina, Dolly aus Sri Lanka

Adelina ist in der Enoteca verantwortlich für den Mittagstisch. Die Lunch-Karte ist klein und ausschließlich italienisch: Es gibt zwei Salate (zum Beispiel "Insalata di Finocchi": Fenchel-Salat mit Trauben und Orangen-Filets) eine Suppe ("Zuppa di Lenticchie": Linsensuppe), ein Nudelgericht und eine Lasagne sowie drei Fleischvariationen (zum Beispiel: "Braciole von Verdure": italienische Roulade mit Gemüse). Abends werden die Köchinnen und damit auch die Karte im Restaurant international. Jeden Tag steht eine andere Hobbyköchin am Herd und bereitet eine Spezialität aus ihrem Heimatland zu. Mariella aus Venezuela, Diana aus Palästina, Dolly aus Sri Lanka. "Nonnas of the World", nennt Scaravella sein Konzept.

Der Chef ist wie seine Köchinnen kein Restaurant-Profi. Scaravella hat 25 Jahre für die MTA gearbeitet, die New Yorker Nahverkehrsbetriebe. "Da hatte ich vor allem mit Zahlen zu tun", erzählt er. Die Enoteca war anfangs ein zeitaufwendiges Hobby. Als er vor neun Jahren anfing, suchte er Frauen aus den verschiedenen italienischen Regionen, die bereit waren, sich einen Abend in eine Restaurantküche zu stellen. Mittlerweile ist die Mitarbeiterinnen-Akquise ein Selbstläufer: "Es hat sich rumgesprochen, was mir machen", sagt Scaravella. "Ich bekomme E-Mails von Töchtern oder Söhnen, die mir im Namen ihrer Mütter schreiben."

Anahit aus Armenien ist ihrem Sohn zuliebe nach New York gezogen. Ein richtiges Gespräch auf Englisch kann Anahit auch nach einem Jahr noch nicht führen. Sie erkennt einzelne Worte, dann strahlen ihre Augen. Am Herd ist das egal: Wenn Anahit "Dolma" zubereitet, gefüllte Paprika auf traditionelle armenische Art, sind ihr die Handgriffe vertraut. Und die Verständigung mit ihrer Tagespraktikantin - einer jungen Amerikanerin mit asiatischen Wurzeln - klappt auch ohne viele Worte. Schneiden, aushöhlen, füllen, anbraten, salzen.

Für Frauen wie Anahit aus Armenien ist die "Enoteca Maria" nicht in erster Linie ein Arbeitsplatz, sondern ein Ort, an dem es egal ist, dass sie kaum Englisch spricht. Kochen als Sprache und Selbstbestätigung - das ist das eigentliche Konzept der "Enoteca Maria". Dass manche Köchin noch zu jung ist, um schon Großmutter zu haben? Geschenkt. Piera ist seit zwei Jahren in den USA, in Italien hat sie als Buchhalterin gearbeitet. Irgendwann will sie wieder ihrem eigentlichen Job nachgehen: wenn alle Dokumente da sind und ihr Englisch besser ist. So lange geht sie Nonna Adelina zur Hand. "Sie ist ein Star!", sagt die Beiköchin über die Chefköchin.

Was ist mit der Bezahlung der Nonnas?

Man ist geneigt ihr zuzustimmen. Allein das frischgebackene Focaccia, das als kostenloser Appetizer gereicht wird, ist so gut, dass man glücklich heimgehen könnte, ohne einen weiteren Gang probiert zu haben. Aber es kommen ja noch "Funghi in Crosta" (eine mit Gemüse gefüllte Blätterteigtasche) und Linguine mit Muscheln. In einem Land, in dem Kochen oft bedeutet, ein Fertiggericht in die Mikrowelle zu schieben, dürfte der Besuch in der "Enoteca Maria" für manchen amerikanischen Gast eine Offenbarung sein. Die meisten Besucher seien begeistert, erzählt zumindest Kellnerin Suzie. Frische Zutaten, traditionelle Rezepte, weitergereicht von Generation zu Generation - "what's not to love?", findet sie.

Das Gemeinschaftsgefühl eines Familienessens kann allerdings auch die "Enoteca Maria" nicht ersetzen. Wer allein ins Restaurant kommt, isst dort auch allein. Aber die Liebe, die Scaravellas Großmütter in jedes Gericht stecken, kommt beim Gast an. Das Konzept geht also auf, nicht zuletzt kulinarisch. Bleibt nur noch eine Frage, denn natürlich ist die "Enoteca Maria" auch ein Geschäft: Was ist also mit der Bezahlung der Nonnas? Selbstverständlich würden alle Frauen für ihre Arbeit entlohnt, sagt Scaravella. Manche wollten das Geld nicht, denen sage er, dass sie es spenden sollten.

Enoteca Maria, 27 Hyatt Street, Staten Island, New York 10301. Geöffnet von Mittwoch bis Sonntag, ab 12 Uhr. Weitere Informationen gibt es hier.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3455191
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/jana/afis
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.