Süddeutsche Zeitung

Food-Start-up:Von der Plage zur Delikatesse

Ein Berliner Paar hatte eine clevere Idee: Es bringt invasive Tierarten wie Sumpfkrebse auf den Teller, die sonst viel Schaden anrichten würden. Dieser Spirit hilft auch beim Durchhalten in der Corona-Zeit.

Von Verena Mayer, Berlin

Nichts deutet darauf hin, dass es Jule und Lukas Bosch gerade mit einer Plage zu tun haben. Das Ehepaar steht am Ufer eines kleinen Sees im Britzer Garten in Berlin. Blühende Seerosen treiben darauf, die Wölkchen am blauen Spätsommerhimmel spiegeln sich im Wasser, es sieht aus wie auf einem Gemälde von Monet. Und doch lauert hier überall eine Gefahr für das Ökosystem: der Rote Amerikanische Sumpfkrebs nämlich. Er wurde irgendwann aus Nordamerika eingeschleppt und verdrängt als invasive Art nun in Berliner Gewässern die heimischen Krebse, weil er groß und kräftig ist und kaum Feinde hat. Außerdem überträgt er eine tödliche Pilzerkrankung, die ihm selbst nichts ausmacht. Kurz: Der Sumpfkrebs gilt in Berlin als Plage.

Das Thema ist nicht neu. Vor drei Jahren krabbelten so viele Sumpfkrebse durch den Berliner Tiergarten, dass man beim Joggen über die handtellergroßen Tiere stolperte. Das Land Berlin lässt die Tiere seit 2018 fangen, die Krebse sollen raus aus den Parks. Die Frage ist nur: Wohin? Hier kommen Jule und Lukas Bosch ins Spiel, 32 und 31 Jahre alt. Die beiden sehen in den Tieren nämlich nicht nur eine Plage, sondern auch eine Delikatesse. Die wollen sie mit einem Start-up namens "Holycrab!" auf den Tisch bringen. Problem gegessen gewissermaßen.

Lukas Bosch lässt den Blick über den See schweifen und zeigt auf zwei Stangen, die aus dem Wasser ragen. Hier sind die Reusen befestigt, mit denen die Krebse gefangen werden. Bosch ist freiberuflicher Unternehmensberater, seine Frau Jule beschäftigt sich als Beraterin für Zukunftsthemen unter anderem mit Trends beim Essen. Als die beiden von den Sumpfkrebs-Horden im Tiergarten hörten, hatten sie zwei Gedanken. Erst einen philosophischen: Wenn das Problem am Sumpfkrebs ist, dass er keine natürlichen Fressfeinde hat, dann muss eben der Mensch dieser Fressfeind sein. Dann würde der Mensch nämlich zur Abwechslung nicht wahllos Tierarten ausrotten, sondern auch mal seiner Verantwortung am oberen Ende der Nahrungskette gerecht werden. Der zweite Gedanke war ein wirtschaftlicher: Wenn die Viecher schon in großen Mengen da sind, dann kann man auch ein Business daraus machen, die Plage als Ressource.

Die beiden taten sich mit dem Koch Andreas Michelus zusammen, der schon im Fünfsternehaus "Hotel de Rome" gearbeitet hat, und besorgten sich einen Foodtruck. Sie servierten die Krebse als Variante von Fish and Chips oder als Fischbrötchen in einer Brioche mit Dill-Mayonnaise und rotem Zwiebelsalat. Sie machten die Krebse zur Basis einer Bouillabaisse oder verarbeiteten sie mit fruchtigen Tomaten zu Pasta-Soße, was dann "Frutti di Plage" hieß. Und sie fanden heraus, dass es in und um Berlin noch andere Delikatessen gibt, die keiner will, den Kamberkrebs etwa oder die Chinesische Wollhandkrabbe.

Das nussige Fleisch der Wollhandkrabbe erinnert an Hummer

Wie schmecken invasive Arten eigentlich? Koch Michelus sagt, die Sumpfkrebse seien, wie alle Süßwasserkrebse, mild und fast geschmacksneutral, weshalb auch Menschen etwas damit anfangen könnten, denen Seafood zu fischig ist. Die Wollhandkrabbe habe mit ihrem nussig-festen Fleisch wiederum fast etwas von Hummer. Kamberkrebse hat Michelus auch schon mit Butter und Zucker karamellisiert und zusammen mit Schokolade als Dessert serviert.

So hätte es dann auch weitergehen können. Die Leute von Holycrab verkochten und verkauften ihre Krebse, machten Caterings und richteten Veranstaltungen aus, bei denen die Leute die Krabben auch selbst zubereiten durften. Doch dann kam Corona. Alles wurde abgesagt, der Betrieb stand still, keiner wusste, wie es weitergeht. Jule und Lukas Bosch mussten den Foodtruck vermieten, hatten als Freiberufler keine Aufträge mehr. Doch nach der ersten Schockstarre hätten sie noch mal daran gedacht, was ihr Geschäft ausmacht, sagt Lukas Bosch. Nämlich eine Plage auch als Potenzial zu begreifen. Flexibel zu bleiben. In den vergangenen Monaten haben sie dann alles umgestellt. Sie lassen nun Krabbenessenz produzieren, die man Soßen beimischen kann. Und sie wollen Flusskrebse in größeren Mengen in einer Art Zwischenhandel in die Gastronomie bringen, an Restaurants oder Caterer.

Durch den Britzer Garten spazieren die beiden daher, um zu gucken, was die Basis ihres Geschäftsmodells so macht. Die Boschs gehen um den See herum, beugen sich über plätschernde Wasserläufe. Die Sumpfkrebse lassen sich nicht blicken, vielleicht, weil sie ahnen, dass noch bis Ende Oktober Fangsaison ist. Mehrmals die Woche leert ein Fischer die Reusen im Auftrag des Landes Berlin. Die Boschs nehmen entweder ihm den Fang ab oder sie lassen sich Krebse und Krabben aus der Umgebung liefern, von Fischern, die die Tiere artgerecht töten und tiefkühlen. Anfangs sei er auch selbst mit den Krebsen im Kofferraum herumgefahren, sagt Lukas Bosch, "wir mussten uns alles erst aneignen". Jule Bosch ergänzt, sie könne nicht mehr sagen, durch wie viele Parks sie schon gelatscht seien, um zu gucken, was da so kreucht und fleucht.

Das könnte man als die Geschichte eines kuriosen Berliner Start-ups sehen, doch der Koch, der Unternehmensberater, seine Frau und ihre Krebse treffen einen Nerv. Denn die moderne Gastronomie giert nicht unbedingt nur nach dem Außergewöhnlichen, nach Hummern, Meeresfrüchten und anderen Luxusprodukten. Sie ist längst auf das Hyperregionale fixiert, auf Dinge, die am Besten aus dem eigenen Hinterhof kommen. Die Krebse aus dem Park sind beides, exotisch und lokal. Sie leben zudem in freier Wildbahn und sind auf ihre Art nachhaltig. Sie zu essen bedeutet, etwas fürs Ökosystem zu tun. Die Sumpfkrebse stellen gewissermaßen die Kehrseite des Veganismus dar: Man tut der Natur etwas Gutes, gerade weil man Tiere isst.

Die Fangzahlen der Flusskrebse sinken rapide

Jule Bosch will auch nicht, dass man die invasiven Arten als Eindringlinge oder gar Feinde bezeichnet. Sie sind ja nicht selbst hierher gekommen, sondern wurden von Menschen in ihre Situation gebracht. Die Krebse im Park stammen vermutlich von Artgenossen ab, die mal aus einem Aquarium ausgekippt wurden. Es sei Aufgabe des Menschen, dafür zu sorgen, dass die Natur ihr Gleichgewicht wiederfinde. Insofern gehört es auch zum Businessplan des Start-ups, dass ihm die Geschäftsgrundlage irgendwann ausgehen wird. Die Fangzahlen der Sumpfkrebse sind in Berlin inzwischen rapide gesunken, von rund 38 000 Exemplaren 2018 auf 23 000 im vergangenen Jahr. Diese Saison sollen es noch weniger sein.

Und dann? Wenden sich die Boschs eben der nächsten Art zu, die sich in einer globalisierten Welt bestimmt ansiedeln wird. Schon jetzt haben sie die Nilgans im Auge, die vor allem in der Stadt Frankfurt ein Problem ist und vielerorts gejagt wird. Sie sei zwar etwas zäh, gebe bei richtiger Zubereitung aber eine tolle Weihnachtsgans, sagt Jule Bosch. Sie bleibt abrupt stehen, ruft: "Da!" und zeigt auf eine üppige Pflanze mit hellgrünen Blättern am Wegesrand. Japanischer Staudenknöterich, der Albtraum von Stadtgärtnern, weil er Parks zuwuchert. Aber die Stängel kann man kochen. Sie schmecken wie Rhabarber, eignen sich für Kompott oder Chutneys. Der Rohstoff wird dem Unternehmerpaar also nicht so schnell ausgehen.

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