Hype und Hölle sind manchmal nicht weit voneinander entfernt. Im Fall der Avocado genau einen Esslöffel, der aus der beliebten Frucht ein Gefäß für Heißgetränke mit Milch macht. Wer auch immer die "Avocado Latte" erfunden hat, läuft Gefahr, mit seiner eigenen Jutetasche erdrosselt zu werden. Jene, die Avocados lieben, wird auch diese Geschmacksverirrung nicht von ihrer Lieblingsfrucht fernhalten. Die Avocado hat es längst aus der veganen Küche in den Mainstream geschafft: Rezeptzeitschriften mit einer Kernzielgruppe 50+ warten genauso mit Avocado-Toast-Varianten auf wie Fitnessmagazine. Grün, gesund, gaumenschmeichelnd - und die verheerende Ökobilanz wird einfach auf Nimmerwiedersehen in der selbstgemachten Guacamole versenkt.
Angesichts der Massen, die in deutschen Supermärkten allabendlich Avocados auf die ideale Reife abtasten, erscheint der nächste Schritt fast zwangsläufig: ein Imbiss, der ausschließlich das grüne Gaumengold serviert. Alessandro Biggi, Francesco Brachetti and Alberto Gramigni, die Besitzer der "Avocaderia", besinnen sich auf eine der Grunddisziplinen im Kapitalismus sozialisierter Avantgardisten: populäre Konsumgüter auf ihre einfachste Form reduzieren und dafür richtig viel Geld verlangen. Und wo passt eine solche gastronomische Idee - die weltweit ihresgleichen sucht, wie die Erfinder betonen - besser hin als nach New York? Jene Stadt, in der die Menschen gleichermaßen gesundheitsbewusst und bereit sind, absurde Summen für Dinge auszugeben, die sie ganz einfach auch zuhause machen könnten.
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Am besten lässt sich so ein Konzept im richtigen Umfeld Gleichgesinnter umsetzen. Insofern stimmt der Standort der "Avocaderia" in einer Lagerhalle der Industry City schon mal. Das Areal im Südwesten von Brooklyn, direkt am East River, zieht seit einigen Jahren Künstler und Kreative an - und solche Menschen, die bereit sind, für die Ahnung eines individuellen Lebensstils zu bezahlen. Dabei hilft Verknappung: durch relative geografische Abgeschiedenheit und Öffnungszeiten, die richtigerweise Schließzeiten heißen müssten. Geöffnet ist der Imbiss mit der immergrünen Anmutung unter der Woche von 11 bis 16 Uhr. Hier muss man schon herkommen wollen.
Aber weil der moderne Mensch, speziell in New York, nun mal ein Paradoxon ist - bei allem Streben nach Einzigartigkeit immer bereit, sich für den neuesten Restaurant-Hype in lange Schlangen einzureihen - wollen sehr viele. Am Eröffnungstag im April gingen der "Avocaderia" direkt die namensgebenden Früchte aus. Heute werden dort dem Stadtmagazin Gothamist zufolge pro Woche 300 Kilo Avocados verarbeitet. Die, so betonen die Besitzer, stammten von einem Kleinbauern-Konsortium in Mexiko, das seine Angestellten und die Umwelt mit Respekt behandle. Die Bestellung kann also mit bestem Gewissen aufgegeben werden: "Avoburger" für knapp 15 Dollar "Beets & Blue Toast" für knapp 10 Dollar und ein "Avosmoothie" für stolze 7,50 Dollar (plus Steuer).
Serviert wird in Pappschalen mit Plastikbesteck
Große Experimente erlaubt die Karte nicht. Aber darum geht es ja gerade - "Avocaderia", der Name allein verspricht, dass hier die pure Frucht im Vordergrund steht. Ohne Stickstoffbrunnen, ohne handgeschöpfte Salzblüten aus der Bretagne, ohne Schnickschnack. Und bedauerlicherweise auch ohne Besteck, mit dem sich der Rote-Bete-Blauschimmel-Toast in mundgerechte Stücke schneiden ließe. Serviert wird in Pappschalen mit Plastikbesteck. Darin kommt die kulinarische Komposition wunderbar zur Wirkung (das Schöne im Hässlichen, Kontrastlehre 101), einerseits. Andererseits kann man sich durchaus auch an einen Krankenhausbedarfsgüter erinnert fühlen (ohne ins Detail zu gehen, es wird schließlich gegessen).
Wie dem auch sei: Es empfiehlt sich, das Gipfelstürmerwimpel-Äquivalent-Foto für Instagram & Co. vor dem ersten Bissen zu machen. Danach zerfällt das Kunstwerk aus der kalten Küche in seine Einzelteile. Die schmeckt man tatsächlich auch heraus: Die Rote Bete kommt durch, dann der Blauschimmel, auch die Zitrone im Dressing. Rucola, Nussmix, getoastetes Vollkornbrot. Nur die wichtigste Zutat - die geht komplett unter. Hätte man nicht ab und zu die charakteristisch samtige Textur einer reifen Avocado auf der Zunge, man könnte auch in einem x-beliebigen vegetarischen Imbiss geordert haben.
Ganz anders beim Avoburger. Der besteht aus einer halbierten Avocado, belegt mit Räucherlachs und Wassermelonen-Rettich, auf einem Rucolabett mit Pita-Chips. Doch so viel Avocado das Auge erfasst, so wenig kommt davon im Mund an. Wo ist das verdammte Fleur de Sel, wenn man es mal braucht?
Wer mit nur wenigen Zutaten arbeitet, sollte die virtuos beherrschen
Es mag am Besuchstag an einer Kiste außergewöhnlich unaromatischer Avocados gelegen haben. Oder aber die Besitzer der "Avocaderia" sind am selbstauferlegten kulinarischen Minimalismus gescheitert: Gerade wer mit nur wenigen Zutaten arbeitet, sollte die virtuos beherrschen. Man würde sich am liebsten mit hinter den grün-weiß gefliesten Tresen stellen und ein paar Zwiebeln und Tomaten schnippeln. Oder das Salz von den Crackern kratzen (wenn man sich damit nicht das Beste des ganzen Gerichts kaputt machen würde). Am Ende kommt die ersehnte Würze in Gestalt eines Salz- und Pfefferstreuers aus dem mexikanischen Imbiss schräg gegenüber.
Dort ist man wenig begeistert über die Kundschaft der Konkurrenz. Und an dieser Stelle trumpft die "Avocaderia" dann doch noch mal auf: Das verlegenheitsrote Gesicht lässt sich nämlich wunderbar hinter dem hellgrünen Avosmoothie verstecken. Der ist cremig und schmeckt wunderbar süß nach Bananen. Von Avocado einmal mehr keine Spur - aber vielleicht ist das nicht das Schlechteste. Stichwort Avolatte.
Avocaderia, 238 36th Street, Brooklyn, New York. Geöffnet: Montag bis Freitag elf bis 16 Uhr. Mehr Informationen hier.