Süddeutsche Zeitung

Architektur:Ist doch die Höhe

In Dubai und New York entsteht gerade eine teure Spektakel-Architektur, die nur noch Kulisse sein soll. Eine Polemik.

Von Gerhard Matzig

Ein etwas voluminöses und schätzungsweise mittelaltes Paar, nicht allzu befremdlich in den wohlgenährten USA, aber jedenfalls doch eher der Kompaktklasse zuzurechnen, steht vor der mutmaßlich spektakulärsten Treppenanlage der Welt. Er trägt ein rotes Shirt, sie ein graues - und dazu eine Tasche mit dem Aufdruck "Mind Body". Beide tragen einen verhalten fröhlichen, möglicherweise auch eher besorgten Ausdruck im Gesicht, den man vielleicht so deuten könnte: "Hey, und da sollen wir jetzt wirklich hoch, ist das euer verdammter Ernst?"

Der Mann, der dieses Bild trotzdem auf Instagram gepostet hat (zum Zeitpunkt dieser Niederschrift mit relativ enttäuschenden sieben Herzen ausgezeichnet) nennt sich "pablorios670". Die Treppenskulptur in Manhattan, New York, heißt dagegen "The Vessel", Gefäß. Auf Instagram ist die begehbare, vom Briten Thomas Heatherwick entworfene Monumentalskulptur schon zum Selfie-Star geworden: Rund 175 000 Posts können nicht irren.

Im März wurde die gigantische Stahlkonstruktion inmitten des mit einem guten Dutzend Hochhäusern beplanten Areals namens "Hudson Yards" am Westrand von Manhattan eröffnet. Seither erinnert die Anlage, die in knapp 50 Metern Höhe einen Instagram-tauglichen Ausblick verspricht, an die von M.C. Escher als optische Täuschungen organisierten Treppen des Irrewerdens. Andererseits finden einige Kommentatoren in den sozialen Netzwerken auch, dass das Ding an eine sehr große Ananas, einen sehr großen Abfalleimer oder möglicherweise auch an eine sehr große Schnapsidee erinnert.

Wenn, dann funktioniert sie aber erstaunlich gut: In New York gehört die Ananastreppe schon zu den neuen Wahrzeichen.Vielleicht toppt die Escher-Ananas noch nicht die erste Liga, also Freiheitsstatue, Brooklyn Bridge, Times Square, Empire State Building oder Central Park: Doch etliche Touristen aus aller Welt kommen zu den Hudson Yards, um die Vertikaldistanz von etwa einer Meile treppenkeuchend zu überwinden, einerseits also im Zeichen der sportiven Verfittung, die - eigentlich keine schlechte Idee - der softdrinkhaften Verfettung entgegentritt. Andererseits dient das Gebilde vor allem dazu, dem Selfie zu einer zeitgemäß verblüffenden Hintergrundoptik zu verhelfen.

Dubai und seine architektonischen Ausrufezeichen

In einer ikonischen bis narzisstisch-gestörten Ära der Aufmerksamkeitsökonomie, da zwar doch nicht, wie Warhol glaubte, jeder seine 15 Minuten Ruhm, aber immerhin mindestens einige Likes erhält, wird The Vessel zum Gefäß unterschiedlicher Beweggründe. Derartige Spektakel-Architekturen, die alles andere als sinnfrei telegen um die Blicke der Welt konkurrieren und im Wettbewerb einer verstädterten Ära auch ganz schlicht um Besucherzahlen buhlen, werden die bislang bekannte Welt der etablierten Wahrzeichen zumindest auffrischen. Wenn nicht ablösen.

Kein Wunder also, dass es immer mehr davon gibt.

In Dubai fungiert der tollkühne, arg zerbrechlich wirkende "Dubai Frame" als architektonisches Ausrufezeichen, er steigert das Selbstwertgefühl der Millionenstadt am Persischen Golf (die auch schon das höchste Bauwerk der Welt besitzt). Der Frame ist ein von Fernando Donis entworfener "Rahmen", englisch: frame, der sich aus zwei extrem schlanken, jeweils 150 Meter hohen Türmen zusammensetzt, die unten durch ein Basisgebäude und oben durch eine gut 90 Meter lange Brücke verbunden sind.

Anfang 2018 wurde das Gebilde eröffnet. Eigentlich sieht es aus wie ein großer, leerer Bilderrahmen, der noch auf ein von der hobbymäßig aquarellierenden, wenn nicht gar dilettierenden Tante gestiftetes Gruselwerk wartet. Der Rahmen ist sehr, sagen wir, ornamental-barock und entsetzlich geraten. Der Effekt ist dennoch verblüffend, weshalb auch der Rahmen von Dubai zu den Instagram-Größen unserer Epoche zählt.

Übrigens ist es ermüdend: Ob Frame oder Vessel, die Selfies zeigen immer das Gleiche: tiefe Ausschnitte, Waschbrett- bis Waschbärbäuche, Duckfaceschnuten, akrobatische Verrenkungen, angesagte Sneaker und sehr viele erigierte Daumen, die suggerieren: Ich bin auch hier und saugut drauf. Häufig wird das dann so kommentiert: OMG - Oh my God. Der, also Gott selbst, durch den Rahmen entweder das moderne Dubai rund um den 828 Meter hohen Burj Khalifa betrachten kann oder wahlweise, aus der anderen Richtung, auch das alte Dubai mit dem Stadtteil Deira in den Blick nimmt. Deira ist das historische Handelszentrum am Dubai Creek. Wer sich traut, kann aber auch weder nach rechts noch nach links schauen, sondern einfach angstschlotternd nach unten starren. Und beten, dass der Glasfußboden hält, was die Ingenieure und der TÜV behaupten.

Weil der Wettbewerb um immer aufsehenerregende Städtebau-Gadgets so sehr Fahrt aufnimmt, ist es eigentlich ein kleines Wunder, dass sich London der Tulpe verweigert. Vielleicht ist dies aber auch ein Hoffnungszeichen, dass die Briten, wie man schon länger argwöhnt, doch noch nicht ganz gaga sind. BoJo hin, Brexit her. Im Juli gab es die jedenfalls vorläufige Absage für das von Norman Foster entworfene Gebäude namens "Tulip Tower". Dieser Tulpenturm war gedacht als 305 Meter hohe Mischung aus Aussichtsturm und Riesenrad, also als reine Touristenattraktion. Statt Büros oder Wohnungen waren eine Bar und ein Restaurant mit 360-Grad-Panoramablick über die Stadt geplant.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat allerdings sein Veto gegen die Pläne der 305 Meter hohen Geschmacksentgleisung eines offenbar auch schon etwas angejahrten Ex-Stararchitekten eingelegt. Khan ließ mitteilen, dass der Bau die Londoner Skyline ruinieren würde und zudem von begrenztem Nutzen wäre für die Londoner. Und außerdem: "Es fehlen Fahrradplätze." Das Ausspielen von Fahrradplätzen gegen Star-Architektur ist natürlich boshaft. Aber auch herrlich souverän.

Sehenswürdigkeiten sind ohne Zweifel wichtig für Städte. Was wäre München ohne Hofbräuhaus und Olympiastadion, was wäre Hamburg ohne Michel und Elbphilharmonie, was wäre Berlin ohne Reichstagskuppel (übrigens von Norman Foster sehr schön entworfen) und Museumsinsel, was wäre Paris ohne Eiffelturm? Die Geschichte des Eiffelturms lässt einen im Bedenken gegen Spektakuläres auch etwas innehalten: Als der stählerne Turm seinerzeit, also Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, war der Bau eine Frechheit. Die meisten Pariser wetterten gegen das spektakuläre Gebäude, das Paris ruiniere. Heute ist der Turm des Gustave Eiffel, von dem man lange nicht wusste, wozu er eigentlich gut sein soll, ein unschätzbares Wahrzeichen nicht nur von Paris, sondern in der Welt.

Aber: Es drängt sich angesichts der oft zirkusreifen Schau-mich-an-Bauten der urbanen Neuzeit, ob Tulpe, Ananas oder Rahmen, die eine Entsprechung im ländlichen Raum haben (gläserne Ausgucke über tiefen Schluchten und dergleichen mehr), der Eindruck auf, dass wir zwar immer weniger identifikatorisch wirksame, charakteristische Stadtfiguren ausbilden, aber dafür mit pompösen Kraftanstrengungen im öffentlichen Raum versöhnt werden sollen. Das heißt: Die Städte werden immer hässlicher und verwechselbarer in ihrem Einerlei der trostlosen Zweckbauarchitektur. Und dafür stellt man uns dann Treppen, Rahmen und Tulpen zum Staunen hin. Statt Reiterstandbilde und Brunnen wie im 19. Jahrhundert.

Das ist schlau: Wer die Ananas von Manhattan einmal erkraxelt hat, ist schlicht zu müde, um gegen den Städtebau von heute zu protestieren. Es reicht dann nur noch für ein todtrauriges Selfie: Schaut, ich war da - wo auch immer dieses "da" sein mag.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2019/mkoh
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