Architektur:Völlig drüber

Haus Kopf über Touristenattraktion Putbus Insel Rügen Mecklenburg Vorpommern Deutschland Europ

Leichter Dachschaden: Das Haus "Kopf über" auf der Insel Rügen ist eine Touristenattraktion.

(Foto: imago stock&people/imago/imagebroker)

Wohnungsnot und Renditedenken machen erfinderisch: In Deutschland werden die Dächer fantasievoll ausgebaut. Stilistisch ist es oft ein Horror.

Von Gerhard Matzig

In Deutschland, die Wohnungskrise ist groß, das Reservoir an Baugrund aber klein, wird der Dachausbau mit Elan betrieben. Wie andernorts die Landgewinnung. Während aber das technologische Voranschreiten in Singapur, Japan oder den Niederlanden der "Urbarmachung von bisher landwirtschaftlich nicht genutzten Flächen" dient (Wikipedia, aber das sei hier nur zur Sicherheit für eifernde Plagiatsjäger erwähnt), außerdem dem Küstenschutz, geht es in Deutschland beim Dachausbau erstens um die Wohnungsnot in Ballungszentren. Zweitens um die Rendite von Immobilien. Und drittens um das kleine Gespenst auf Burg Eulenstein. Womit sich ein vierter Aspekt verbindet: die Frage nach der Ästhetik von stadtraumbildenden Dachlandschaften, die sich wandeln wie selten zuvor.

Die Dächer werden ja nicht nur, oft ungeschickt, zu Solardächern ausgebaut, sondern sie werden auch typologisch, architektonisch und stadträumlich im großen Stil umgebaut. Erstaunlicherweise hat noch niemand danach gefragt, was das für das Habitat von kleinen Gespenstern bedeutet. Ganz abgesehen davon, welche Stilprobleme man sich auch abseits davon einhandelt.

Das kleine Gespenst, um einen namhaften Verlierer der aktuellen Entwicklung zu nennen (von einem namhaften Gewinner dieser Entwicklung, René Benko, gleich mehr), wohnt seinem Erfinder zufolge, es ist der Kinderbuchautor Otfried Preußler, "in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz". Die auf dem Dachboden "versteckt hinter einem der dicken Schornsteine" ruht. Zusammen übrigens mit den "vielen Spinnweben, denn dieser entlegene Teil des Dachbodens, den seit Jahren kein Mensch betreten hatte, war ganz und gar zugesponnen und schrecklich verstaubt". Weil aber schrecklich verstaubte und ganz und gar zugesponnene Dachböden den ohnehin überhitzten Immobilienmarkt und eine im Mangel an Wohnquadratmetern orientierungslos herumirrende Wohnungspolitik entzücken, werden eisenbeschlagene Eichenholztruhen auf Dachböden bald so exotisch anmuten wie kleine Gespenster, menschenferne Spinnweben und das bemerkenswert altmodisch schöne Wort "Dachboden" selbst.

Ungenutzte Dachböden kann man vergolden, Spinnweben nicht

Der Boden ist eigentlich das, worauf man steht. Er beschreibt ein "unten" im dreidimensionalen Raum. Das Dach aber ist das, was einen "oben" beschirmt. Der Dachboden als denkwürdiges Untenoben, das zugleich ein Obenunten ist, wobei man aber auch Speicher, Oller oder Söller dazu sagen kann, sollte schon als Paradoxon der architektonischen Lebenswelt unter Denkmalschutz stehen. Das Bauen hat einen traditionsreichen Formfundus der Dachkonstruktionen hervorgebracht. Doch als Ort, den, wie Preußler glaubte, kaum ein Mensch betritt, wird der Dachboden nun von stauballergischen Menschen neu erfunden. Der österreichische Milliardär und Immobilieninvestor Benko hat sein Vermögen im Grunde dieser einen Idee zu verdanken: ungenutzte Dachböden kann man mit einfachsten Mitteln als Luxuswohnraum vergolden. Spinnweben eher nicht.

Wie Benko werden die Investoren daher immer findiger im Ausschlachten eines Raumes "mit Potenzial" (Maklerpoesie). Den Dachboden überlässt man nicht länger den armen Poeten unter uns in ihren verregneten Mansarden, wie es das berühmte Gemälde des Biedermeier-Malers Carl Spitzweg nahelegt, sondern man nutzt eben das futuristische Potenzial: mehr Raum, mehr Quadratmeter, mehr Rendite - mehr Ausblick sowieso. Und leider nur selten weniger Wohnungskrise. Denn das Leben unterm Dach hat in den Städten, aufzugtechnisch gut erschlossen, die Beletage abgelöst. Mit entsprechenden Preisen.

Das geht ästhetisch einher mit immer bizarreren Dacherfindungen. Es ist, als sähe man solchen Dächern, die baurechtlich, statisch und haustechnisch bis auf den letzten verschnipselten Luxus-Quadratmillimeter ausgepresst werden, zunehmend an, wes Geistes Kind sie sind. Oft geraten die Dächer im Bemühen, darunter immer mehr Rendite zu erzielen, zu absurd ausgebeulten Wohn-Deckeln. Weder sind es Flach- noch Falt- noch Pult- noch Walmdächer, die da entstehen: Es sind delirierende Exotismen. Im Grunde: Raumforderungen im Reich der Wohnbau-Pathologie.

Nicht die Schönheit eines Hauses wird hier beschirmt, sondern das Effizienzdenken, das darin wohnt. So entstehen oft schaurige Eiterbeulen auf den Dächern, die noch die absurdesten Winkel zu verklemmten Dachterrassen umdeuten oder aus gigantisch überdimensionierten, proportional missglückten Gauben-Konstruktionen bestehen. Die unter Druck geratene Dachlandschaft erleidet das Schicksal anderer Landschaften auch. Wir machen die Welt erst urbar - und dann hässlich. Würde man dem kleinen Gespenst nicht zu nahe treten, man müsste sagen: Dort oben unterm Dach ist Gespenstisches im Gange.

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