"Anziehsache" zu Flanell:Kuschelrock

"Anziehsache" zu Flanell: Tracht des Lumbersexuals: das Flanellhemd

Tracht des Lumbersexuals: das Flanellhemd

(Foto: Illustration: Jessy Asmus / SZ.de)

Wer weder im Fleece noch im Bademantel aus dem Haus gehen und es trotzdem warm haben möchte, sollte sich bei einem walisischen Weber bedanken. Er hat den Flanell erfunden.

Von Lena Jakat

Neulich habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, Chris zu sein. Nicht Chris Martin, Chris Brown oder mein Bekannter Chris, der Triathlon läuft. Sondern Chris, das australische Schaf. Jahrelang hatte sich das Tier vor der Schur versteckt und sich so 44 Kilo Wolle wachsen lassen. Von Kopf bis Fuß eingewickelt in Zentimeter um Zentimeter flauschiger, wohlig wärmender Wolle, gut geschützt vor Herbstwind und kriechender Morgenkälte - wie herrlich muss das sein!

Es ist natürlich der Herbst, der mich zu solchen Tagträumen verleitet. Der küchenpsychologische Irrglaube, ich könnte mich selbst überzeugen, dass noch immer Sommer ist, indem ich einfach die Heizung nicht einschalte. Und schuld ist auch die Bredouille im Angesicht des Kleiderschranks. Da gibt es Baumwollstrickjäckchen, die auf dem Fahrrad weniger wärmen als der Gedanke ans Büro. Da gibt es dicke, schwere Wollpullis, die für moderne Gebäude allerdings völlig ungeeignet sind. Der flauschige Frotteebademantel und das kuschlige Bergtourenfleece scheiden ebenfalls aus. Also doch der traurige Zwiebellook? Das muss nicht sein. Dank eines namenlosen walisischen Tuchmachers.

Der erfand nämlich vor gut 400 Jahren den Flanell, jenen wärmendweichen Stoff, der durch Aufrauen und Schmirgeln seine typische Textur erhält und heute vor allem aus Baumwolle und Kunstfaser gefertigt wird. Es dauerte ein paar hundert Jahre, bis der Flanell zu seinem Namen und - durch die industrielle Revolution befördert - zu seiner großflächigen Verbreitung gelangte. Noch einmal etliche Jahrzehnte vergingen, bis sich das Material in der US-Arbeitsbekleidungsindustrie durchsetzte. Und dann mussten in einem kosmischen Zufall auch noch Kurt Cobain und Eddie Vedder erscheinen, um das Flanellhemd hip und cool zu machen. In den 1990er Jahren wurde das Flanellhemd zum unangefochtenen Symbol von Grunge und Freiheitsdrang.

Demokratisch und unpolitisch

Es ist Herbst 2015, 21 Jahre nach Cobains Tod und ein Jahr, nachdem das Ideal des Bart-, Axt- und Flanellhemd-tragenden Yuppies, des Lumbersexual, die Runde machte. Es ist der Herbst, in dem der Vollbart endgültig für tot erklärt wurde. Und noch immer trägt die Welt Flanell. Frauen tragen Flanellblusen zu Jeansröcken, Models Flanellkleider von Valentino. Herren tragen Flanell zum Holzhacken oder im Büro. Der Flanell ist absolut demokratisch und dabei unpolitisch, ziert den Unternehmensberater beim Bäcker genauso wie die Ethnologie-Studentin in der Bibliothek, die Fashionista wie den grundsätzlich Unmodischen. Er hält warm, ohne Schweißausbrüche zu provozieren und ist auch optisch solide: In den meisten Fällen kommt er kariert daher.

Kolumne Anziehsache

In ihrer Stilkolumne widmet sich unsere Autorin regelmäßig einer aktuellen Auffälligkeit aus der Modewelt - von A wie Adilette bis Z wie Zebraprint. Haben Sie eine Anregung? Dann schreiben Sie ihr!

Wer einmal angefangen hat, darauf zu achten, wird plötzlich überall Flanell sehen - und sich, fröstelnd, beherrschen müssen, niemandem das Holzfällerhemd vom Leib zu reißen. Um des Flanells willen, nicht des Leibs, natürlich. Ich muss dringend dem Flanellfachgeschäft meines Vertrauens einen Besuch abstatten. Und vielleicht gleich ein bisschen großzügiger einkaufen.

Denn in einer Welt, da Menschen Pullis für Pinguine stricken, wäre es eigentlich nur folgerichtig, auch dem Schaf Chris ein Mäntelchen aus Flanell zukommen zu lassen. Schließlich ist das Tier inzwischen geschoren und muss ganz schön frieren.

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