Süddeutsche Zeitung

"Anziehsache" zu Crop Tops:Einer jeden ihr Bauchgefühl

In den Neunzigern trugen Frauen sie zu Tattoo-Ketten und Steißbein-Tribals. Jetzt sind die bauchfreien Oberteile zurück. Und haben eine zweite Chance verdient.

Von Lena Jakat

Jeder hat eine zweite Chance verdient, darüber sind sich die meisten einig. Damit sie diese in der Realität auch bekommen, nehmen Menschen bisweilen Extremes auf sich. Manche ändern sogar ihren Namen: Musiker zum Beispiel oder Kronzeugen des organisierten Verbrechens. Auch in der Mode bekommt nahezu jedes Kleidungsstück eine zweite, dritte, womöglich gar vierte Chance. Dann muss ebenfalls ein neuer Name her. Damit das auch was wird mit der Resozialisierung, beziehungsweise Reprofitisierung.

Zweifellos wäre die Strickjacke in der Helmut-Kohl-ermatteten Bundesrepublik 1998 endgültig abgelegt worden und hätte auf Dachböden dem Vergessen entgegengemodert, bis sie 2100 im Zuge einer modegeschichtlichen Doktorarbeit wiederentdeckt worden wäre - wenn die Strickjacke sich nicht rechtzeitig in Cardigan umbenannt hätte. Ebenso würde keine Frau von sich sagen, sie trage Hosenrock. Doch alle träumen von einem Herbst 2015 in Culottes. Und bis der Herbst so richtig da ist, bekommt der Bauchnabel noch ein bisschen Auslauf. Dem Crop Top sei Dank.

Bauchfrei trug ich in den Neunzigern mit Rüschen am Saum und zur Tattookette aus Plastik, die inzwischen vemutlich irgendeines der Weltmeere verschmutzt. Ein bisschen später entwickelte sich Bauchfrei vor allem zu Steißfrei, und das zugehörige Tattoo war ein echtes. Bei labilen Teenagern, die zwischen Hormonschüben und flachen Photoshop-Bäuchen erwachsen werden sollten, konnte diese Mode eine fundamentale Krise auslösen. Ziemlich fahrlässig dieses Bauchfrei, wenn man heute so darüber nachdenkt.

Der Mythos mit dem Kältepolster

Am Ende glaubten wir sogar die Geschichte, dass sich der Körper an den Stellen, die unentwegt der frischen Luft ausgesetzt seien, verstärkt gegen die Kälte polstern würde. Ob es - unwahrscheinlich - an diesem vermutlich von überbesorgten Eltern ("Deine Nieren!") gestreuten Mythos lag oder - eher wahrscheinlich - am ewigen Hyperventilieren der Klamottenbranche: Irgendwann wurden die Shirts wieder länger. Das Bauchfrei wurde sehr schnell und überaus konsequent aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt.

Seit ein, zwei Sommern ist es wieder da, das bauchfreie Hemd - Verzeihung, das Crop Top. Der Name klingt dabei nicht nur mondäner. Die Bezeichnung "Abgeschnittenes Oberteil" beschreibt das Kleidungsstück obendrein auch sehr treffend - anders als zum Beispiel Cardigan und Culottes. Im Unterscheid zum imperativen "bauchfrei!" lässt die Bezeichnung zudem offen, wie viel vom Oberhemd abgeschnitten werden soll.

Kolumne Anziehsache

In ihrer Stilkolumne widmet sich unsere Autorin regelmäßig einer aktuellen Auffälligkeit aus der Modewelt - von A wie Adilette bis Z wie Zebraprint. Haben Sie eine Anregung? Dann schreiben Sie ihr!

Was ist nun von diesem Comeback zu halten? Sollten Nierenärzte und Teenager-Eltern sich alarmiert zeigen und eine Kampagne zur Verlängerung des T-Shirt-Saums starten, zum Erhalt der seelischen und körperlichen Unversehrtheit der Jugend? Auf keinen Fall! Selten hat ein Kleidungsstück eine derart ausgeprägte gestalterische Freiheit ermöglicht - und ist es nicht genau das, was unsere Eltern sich immer für unseren Modegeschmack gewünscht haben: mehr Individualität, weniger Mitläufertum? Na also.

Das Crop Top ermöglicht das alles - es kann nur knapp beschnitten werden und am Hosenbund enden, es kann bis über den Nabel gestutzt oder so lange abgesäbelt werden, bis nur noch ein Bustier übrig ist. Es kann also hautfrei, unterbauchfrei, nabelfrei oder gesamtbauchfrei getragen werden. Es kann außerdem am Körper kleben oder wehen, glitzern, durchscheinen oder dick auftragen. Das Crop Top ist so wandelbar, dass es inzwischen auf den Roten Teppich genauso gut passt wie ins Fitnessstudio oder aufs heimische Sofa. So trägt jede ihr ganz individuelles Bauchgefühl.

Kein Zweifel, das Crop Top hat sich bemüht. Und wenn es jetzt die Tattoo-Kette (trotz mancher Wiederbelebungsversuche) in dem Nirvana zurücklässt, in das sie gehört, dann hat das Bauchfrei eine zweite Chance verdient.

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