Es war Raserei. Wenn auch legal. Obwohl man Hans Stuck nach heutigen Kriterien als Autoposer bezeichnen müsste. Jedenfalls kam es am 15. Februar 1935 auf der Autostrada A11, die Florenz mit dem Meer verbindet, zu einem Geschwindigkeitsrekord: Stuck brachte es am Steuer eines Wagens der Auto Union aus Chemnitz, "Lucca" genannt und windschlüpfrig aussehend wie ein Batmobil, auf 320 km/h. Nicht lange zuvor glaubte man noch, dass die Menschen bei solchen Geschwindigkeiten den Verstand verlören. Die Hirne würden durchdrehen wie in der Mikrowelle.
Wer sich die Debatte um das Tempolimit 130 auf deutschen Autobahnen in ihrem jahrzehntelangen Irresein reinzieht, denkt: Tja, genau so, Hirne und Ideologien in der Mikrowelle, ist es doch auch gekommen.
Autokultur:Der Panikraum auf Rädern
Das Auto wurde als Freiheitsversprechen geliebt und als Klimasünder gehasst. Jetzt erlebt es unter Corona-Bedingungen ein seltsames Comeback.
Die Rennabteilung des Automobilkonzerns, aus dem Audi wird, leitete bis 1937 Ferdinand Porsche. Die "Silberpfeile" als Bezeichnung für Grand-Prix-Rennwagen von Mercedes-Benz und der Auto Union fuhren Trophäen und Weltrekorde ein. Mit deutschem Erfindungsgeist: schneller als Windhunde. Die Nazis mochten das.
So versenkte man einen jüdischen Namen auf dem Grund der Archive, ohne den das alles undenkbar gewesen wäre. Weil er ein Pionier der Geschwindigkeit war. Ein Mann der Zukunft. Man erinnert sich an die legendären Silberpfeile, an Porsche, Stuck, an die Auto Union - aber Paul Jaray ist vergessen. Er ist aber der Vater der Lust am Tempo. 1889 geboren in Wien als Sohn des jüdischen Kaufmanns Adolf Járay (Jeiteles), war er ein begnadeter Aerodynamiker und Konstrukteur. Gottloserweise war er Jude.
In Venedig ist seit diesem Wochenende die erhellende Ausstellung "Architecture of Speed - Paul Jaray and the Shape of Necessity" zu sehen (Arsenale Institute for Politics of Representation). Wolfgang Scheppe, Ausstellungsmacher und Philosoph, geht es abgesehen von der Form des Notwendigen um "bislang übersehene Aspekte der Erfindung der Stromlinienform von Automobilen". Designgeschichtlich ist die Ausstellung, die sich auch einer Kooperation mit der Fachzeitschrift Arch+ verdankt, überaus bemerkenswert. Das liegt nicht allein am Modernephänomen der Be- und Entschleunigung, sondern an der Biografie von Paul Jaray. Die zum Politikum wird. Rassismus, Faschismus und ein ökonomischer Wettbewerb der deutschen Automobilindustrie um die Ideengeschichte sind zeichenhaft beteiligt.
Auch heutige Automodelle nähren sich vom Futurismus und Furor des Paul Jaray
Paul Jaray stirbt 1974 mittellos und anonym in St. Gallen. Er gehört zu den wichtigsten Schöpfern der Stromlinienform, die eine ganze Epoche in Architektur, Kunst und Design geprägt hat. Seine Patentanmeldung von 1921 jährt sich zum hundertsten Mal. Die Aerodynamik macht Jaray, der vom Zeppelinbau kam, erstmals zum bestimmenden Konstruktionselement. Selbst die aktuellen Konzeptfahrzeuge, wie etwa der jüngst auf der IAA vorgestellte "Grandsphere" von Audi, niedrig und stromlinienförmig, silbrig zudem, nähren sich vom Futurismus und Furor des Paul Jaray.
Er war, so ist es in der Ausstellung nachzulesen, "nicht nur der Erste, der die mathematische Optimierung der Strömungsmechanik des Fahrzeugkörpers seiner Energieeffizienz und Nachhaltigkeit wegen propagierte, sondern stellte bereits Ende der Zwanzigerjahre Überlegungen zu alternativen Energiekonzepten an, die er im Angesicht des in seinen Augen zu erwartenden Zur-Neige-Gehens fossiler Brennstoffe für unabdingbar hielt". So stellt sich die Frage, wie ein dermaßen visionärer Charakter, der unsere transformative Gegenwart schon vor einem Jahrhundert vor sich sah, untergehen konnte in der Automobilgeschichte. Es ist ein deutscher Skandal. Und einer der Autobranche.
Jaray kann heute als Kronzeuge der vom Klimawandel befeuerten Mobilitätswende gelten. Denn die Geschichte des Automobils ist auch bei aller berechtigten Betonung alternativer Fahrzeuge, vom Lastenrad bis zur ökologisch elektrifizierten Magnetschwebebahn, noch nicht zu Ende erzählt. Eine Ausstellung, die erstmals Paul Jaray würdigt und der Technikgeschichte entreißt, kommt also genau zum richtigen Zeitpunkt. Auch, nein, gerade für die elektrifizierten Vehikel der Zukunft ist eine formal begründete, vor allem aber gestalterisch sinnlich erlebbare Energieeffizienz, die viel mit Lust, wenig mit Verzicht zu tun hat, unabdingbar. Dass die kleiderschrankartig die Aerodynamik ignorierenden XL-SUVs als Dinosaurier des Erdölzeitalters in Zukunft noch eine Rolle spielen könnten, ist nicht anzunehmen. Niemand sollte dem aufgedunsenen Elend automobiler Adipositas hinterherweinen. Die BMW-Monsterniere, sie ruhe in Frieden. Aber bitte: sie ruhe.
Wolfgang Scheppe: "Heute erkennt man im Typ des privaten Fahrzeugs nur mehr den Schaden, den es am Ganzen der Weltgemeinschaft anrichtet. Besonders in seinen repräsentativen Formen wird es heute als reaktionäre Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt betrachtet." Natürlich wird es für eine auch (!) automobile Zukunft nicht um die Fortsetzung jenes Narrenwesens gehen, deren Innerstes Steve Ballmer als CEO von Microsoft einmal faszinierend ehrlich für das digitale Zeitalter zusammengefasst hat: "Schneller! Schneller! Schneller! Schneller!" Aber es wird, nun wieder auf der Straße und nicht im Glasfaserkabel, darum gehen, die aufgewendete Energie bei jedweder Geschwindigkeit optimal zu nutzen.
Das Jahr 2021, da sich der unentwegten Beschleunigung als Hauptmotiv der Moderne auch die boomende Seltsam-Branche der Entschleunigung verdankt, ist der richtige Zeitpunkt, um Paul Jaray als Schöpfer der Stromlinie wiederzuentdecken. Er scheiterte seinerzeit nicht an der Physik, sondern vor allem am Nationalsozialismus, der propagandistisch genau wusste, was er an den Silberpfeilen als Ikonen der Modernität hatte. Scheppe: "Da es der damaligen totalitär herrschenden Diktatur in Deutschland unerträglich erschien, diese programmatisch futuristischen Karosserien, die mit der Schaffung nationalistischer Mythen verbunden sein sollten, einem Juden zuzuschreiben, entfernte man im Zuge der Arisierung der Forschung seinen Namen aus dem öffentlichen Bewusstsein." Seine Patente wurden Allgemeingut. Paul Jaray wurde bestohlen, verleugnet - und vergessen.
Die Stromlinie wurde als "Streamline-Moderne" des Art déco ausgerechnet dort Realität, wo sie absolut sinnlos und enorm lächerlich ist. Bügeleisen, Kinderwagen, Lampen, Radios: Alle möglichen Gebrauchsgüter verkauften sich im "Teardrop-Style" der dynamistisch lustvollen Dreißigerjahre glänzend. Warum aber sollte ein Radiogerät schnell sein wie ein Hai? Jetzt ist es Zeit, den Mann der Tränen wiederzuentdecken. Was die Autobranche mehr denn je braucht, ist Futurismus - und Schönheit.