30 Jahre Photoshop:Wer Realität sucht, muss aus dem Fenster schauen

30 Jahre Photoshop: Perfektion aus dem Computer: Schauspielerin Julia Roberts - einmal in echt und einmal in der retouchierten Version.

Perfektion aus dem Computer: Schauspielerin Julia Roberts - einmal in echt und einmal in der retouchierten Version.

(Foto: AFP/Getty images, © Lancome)
  • Vor 30 Jahren wurde zum ersten Mal ein Bild mit einer Software digital bearbeitet.
  • Neun von zehn Bildern um ums herum seien heute in irgendeiner Weise gephotoshopt, sagt der Geschäftsführer der Herstellerfirma Adobe.
  • Einerseits professionalisierte Photoshop die Manipulation, gleichzeitig demokratisierte es sie.

Von Silke Wichert

Jennifer hatte natürlich keine Ahnung, wo sie da hineingeraten würde. Die junge Frau war 1987 mit ihrem späteren Mann John Knoll in den Ferien auf Bora Bora gewesen. Er hatte sie am Strand fotografiert, mit nacktem Oberkörper, von hinten, vor einer kleinen Insel sitzend. Ein harmloser Urlaubsschnappschuss, fast ein bisschen kitschig, so Achtzigerjahre-Fototapete-mäßig. Und doch ging das Bild als "Jennifer in Paradise" in die Geschichte ein. Denn plötzlich zeichneten sich da am Horizont mehrere grüne Inselchen ab. Aus helllichtem Tag wurde auf einen Schlag dunkle Nacht. Oder es saßen gleich zwei, drei identische Jennifers im Sand. Die Menschen trauten ihren Augen nicht - das Paradies fing an, sich zu verändern! Bis heute ist nur nicht so ganz klar, ob dann ein noch schöneres Paradies Einzug hielt oder eher so eine Art Bilder-Hölle. Denn die neue Welt, die sich da rund um Jennifer auftat, hieß: Photoshop.

Rund 30 Jahre ist es jetzt also her, dass die erste Aufnahme mit der Software bearbeitet wurde, "gephotoshopt", wie man so sagt. Den Begriff kennt mittlerweile jeder, weil in Zeiten digitaler Fotografie ja ständig irgendwo nachgeholfen wird. Mal mehr, mal weniger dezent. Legendär sind die Beschwerden von Schauspielerin Kate Winslet, die 2003 mit einem Wahnsinnskörper und faltenfreiem Gesicht auf der britischen GQ erschien und daraufhin sinngemäß sagte: "So sehe ich nicht aus. Ich will übrigens auch gar nicht so aussehen." Models werden im Eifer des Gefechts schon mal die Knie, der Bauchnabel oder ein Arm wegretuschiert. Kann ja mal passieren. So wie manche Reinigungen auch versehentlich über gewollte Bügelfalten einfach drüberplätten.

Glatter Betrug, sagt nun allerdings das französische Gesundheitsministerium. Seit Oktober müssen Modezeitschriften in Frankreich Bilder, auf denen Körperteile verändert wurden, mit dem Hinweis "photographie retouchée" kennzeichnen. Ähnlich den Warnungen auf Zigarettenpackungen, damit die Leser keinen falschen, womöglich gesundheitsgefährdenden Schönheitsidealen nacheifern. Wichtiges Anliegen, aber wer gelegentlich mal eine Vogue oder Elle, übrigens egal aus welchem Land, in den Händen hält, denkt spontan: Umgekehrt wäre vielleicht einfacher?

Neun von zehn Bildern um ums herum seien in irgendeiner Weise gephotoshopt, sagte der Geschäftsführer der Herstellerfirma Adobe einmal der BBC. Das knackige Essen auf Lebensmittelpackungen, die polierten Kühlerhauben in Autokatalogen und eben die knackig-polierten Models in den Fotostrecken und Werbeanzeigen - alles Mögliche ist zu schön, um wahr zu sein.

Jennifer erscheint da rückblickend wie eine Art digitale Eva. Die erste Frau, die mit dem sogenannten "Lasso-Werkzeug" des Programms eingefangen und bearbeitet wurde - welche Ursünde wurde an ihr begangen, was retuschiert? Heute fast schon skandalös: nichts. Um sie oder ihren Körper ging es bei der Erfindung gar nicht. Ihr Verlobter John Knoll, der bei George Lucas' Industrial Light & Magic arbeitete und sich mit seinem Bruder die neue Software ausgedacht hatte, stand nur gerade zufällig vor einer dieser neuen Maschinen, genannt Scanner. In den Achtzigern waren diese Dinger noch nicht in jeden Drucker integriert, sondern extrem teuer und schwer zu finden. Knoll musste die Gelegenheit nutzen, brauchte er doch dringend eine Bilddatei zu Demonstrationszwecken.

Also digitalisierte er das einzige Foto, das er bei sich trug - das Strandfoto seiner Freundin - um damit bei Software-Firmen die Kunststücke des Programms vorzuführen: Wie man Bilder mit ein paar Klicks grenzenlos verändern könnte, wie Fotos damit zu fantastischen Leinwänden werden würden. Einige große Namen im Silicon Valley lehnten trotzdem ab, die damals noch kleine Firma Adobe griff schließlich zu. Als "Photoshop 1.0" 1990 auf den Markt kam, waren alle Beteiligten zuversichtlich, vielleicht 500 Kopien davon pro Monat verkaufen zu können. Es wurden dann im Laufe der nächsten Jahre bekanntlich eher so ein paar Millionen.

Jetzt ist ausgerechnet das eigene Image von Photoshop ramponiert. Wie konnte das passieren? Keinem Foto könne man mehr trauen, heißt es ständig, "alles fake!" Das stimmt natürlich, wenn man etwa an das berühmte Bild des jungen Mann auf dem Dach des World Trade Centers denkt, der eben nicht wirklich dort stand, als am 11. September von hinten eine Maschine angeflogen kam. Andererseits war die Fotografie bekanntlich schon in der Pre-Photoshop-Ära kein unschuldiges Medium.

Der Fotograf George Hurrell etwa wurde in den 30er-Jahren vor allem deshalb zum Hollywood-Liebling, weil er die Gesichter von Diven wie Joan Crawford so makellos aussehen ließ. Tatsächlich beschäftigte auch er schon einen Retuscheur, der eine "retouching machine" benutzte. Das Negativ vibrierte darin leicht, mit einem Bleistift wurde dann in stundenlanger Kleinarbeit die Haut der Schauspielerinnen weich gezeichnet. Auch Kamera und Scheinwerfer tun seit jeher ihr Übriges, um jemanden "im besten Licht" erscheinen zu lassen. Film, Mode, Reklame - wo Träume produziert werden, wird meistens irgendwo manipuliert. Mit Photoshop stieg das Ganze in die Profi-Liga auf.

2008 brachte das amerikanische Magazin The New Yorker eine seitenlange Geschichte über den Franzosen Pascal Dangin, damals eine Art "Foto-Flüsterer" für die besten Modefotografen der Welt. Nicht weil er große Poren besser wegretuschierte als andere, sondern weil er ein "Image Maker" war. Er wusste genau, wo man welches Werkzeug ansetzen musste, um ein Bild nachträglich noch besser, noch perfekter zu machen. Patrick Demarchelier, Annie Leibovitz, Steven Meisel: Am liebsten arbeiteten sie nur mit "Pascal". Denn - Puristen aufgepasst - natürlich werden auch deren Werke aufwendig gephotoshopt, nur geht es dabei eben weniger um offensichtliche Brustvergrößerungen, sondern um Knitterfalten im Stoff, Farben, Proportionen, Konturen. Wenn Pascal mit ihnen fertig war, sahen die Leute auf den Aufnahmen einfach verdammt gut aus.

Das Problem mit Leuten, die verdammt gut aussehen: Andere wollen genau so gut aussehen wie sie. Eine Logik, die den Aufstieg des Fotografenduos Mert Alas und Marcus Piggott Anfang der Nullerjahre befeuerte, die bis heute die Modewelt mit ihren überglamourösen, stark bearbeiteten Bildern verzücken. Später wird man womöglich von den "photoshop years" sprechen, weil alles immer noch perfekter, noch aufgeräumter, noch klinischer wurde. Nicht nur in den Magazinen: Einerseits professionalisierte Photoshop die Manipulation, gleichzeitig demokratisierte es sie.

Der Betrachter sehnt sich im hochaufgelösten Pixel-Park zunehmend nach etwas Wärme

Bald "stempelten" alle Hobby-Fotografen fleißig mit, radierten Falten aus, setzten Filter ein. Letzteres wird mittlerweile so exzessiv betrieben, dass sich das Wort beinahe vollkommen von der Kaffeemaschine entkoppelt hat und nur noch auf Instagram laufend Posts aufbrüht. Jene, die sich kürzlich über das offizielle, arg nebulöse Portrait von Melania Trump lustig machten, es sei mit dem "Fog of War"-Filter aufgenommen worden, sind übrigens meist die ersten, die bei den Familienfotos die roten Augen wegretuschieren.

Jede Gesellschaft bekommt die Ästhetik, die sie verdient, sagen Retuscheure. Sie erfüllten ja in erster Linie die Vorgaben der Fotografen oder Werbekunden, die damit wiederum glaubten, die Erwartungen des Publikums zu erfüllen. Häufig ist ihr Job jetzt mehr der eines Ausputzers, weil Budgets für Fotoaufnahmen immer weiter zusammengestrichen werden. Statt eines zusätzlichen Tages am Set, bei dem das ganze Team bezahlt werden muss, heißt es heute: "Machen wir später in der Post (-production)." Dann werden die Hände des Models von der einen Aufnahme zum Körper aus einem anderen Bild addiert. Wer nicht den einen perfekten Moment trifft, stückelt ihn sich eben aus verschiedenen digitalen Versatzstücken zusammen. Auch die Farben lassen sich hinterher am Computer angleichen. Ist das Model unvorteilhaft getroffen, wird es eben am Rechner ein bisschen "aufgehübscht". Der Traum vom Fotoladen mit unendlich vielen Schubladen und Möglichkeiten? Nicht jedermanns Sache. Von Altmeistern wie Peter Lindbergh lautet der ewige Vorwurf, Photoshop sei im Grunde "etwas für Loser."

Die Gegenbewegung gibt es natürlich längst. Junge, erfolgreiche Fotografen wie Harley Weir, Jamie Hawkesworth oder die 26-jährige Deutsche Marie Zucker fotografieren vermehrt wieder analog. "Die Körnung und Tiefe von Film ist einfach eine andere, die Färben haben mehr Wärme. Das ist nicht nur ein Retro-Trend, sondern Fakt", sagt Zucker, die bereits für die italienische und deutsche Vogue sowie für Kunden wie Louis Vuitton arbeitete. Es sei außerdem spannender und herausfordernder, nur ein paar und nicht beliebige "Klicks" zu haben. "Du musst wirklich diesen einen Augenblick einfangen", sagt Zucker. Digitale Fotografie wirkt dagegen häufig oberflächlicher. Auch der Betrachter scheint sich im ewigen, hochaufgelösten Pixel-Park zunehmend nach ein bisschen mehr Wärme in den Bildern zu sehnen. Angeblich sogar nach Realität: Der Online-Shop Asos kündigte kürzlich an, keine retuschierten Modelfotos mehr auf der Seite abbilden zu wollen. Wobei sich der Unterschied bei den ohnehin eher makellosen Mädchen in Grenzen halten dürfte. Auf Instagram gibt es längst die #nofilter-Bewegung. Und natürlich die Filter, die ein Bild möglichst analog aussehen lassen.

Verabschiedet sich Jennifer also allmählich aus dem Paradies, gelangweilt von der schönen neuen Welt?

Nicht, wenn man den "Shop" wieder als Werkstatt begreift, der zwar die Werkzeuge zur Verfügung stellt, in dem jeder Nutzer aber selbst dafür verantwortlich ist, was er daraus macht. Innovative Fotografie zum Beispiel. Der in London lebende Fotograf Daniel Sannwald lernte zwar an der Royal Academy of Antwerp noch in der Dunkelkammer, gehörte aber früh zu den Fotografen, die die technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters visuell ausreizten. Seine Arbeiten erschienen in i-D und Vogue, für Stella McCartneys Adidas-Kollektion fotografierte er Kampagnen, die durch Collagen und das Übereinanderlegen verschiedener Ebenen erstaunlich dynamisch wirken.

Das ewige Photoshop-Bashing nerve ihn manchmal, gibt Sannwald zu. "Meine Arbeiten sind dadurch nicht weniger aufwendig, im Gegenteil." Um das Model Georgia May Jagger für eine avantgardistische Beauty-Strecke zu fotografieren, baute er mehrere Kameras um sie herum auf, die ihr Gesicht per 3-D-Scan aufnahmen. Hinterher fügte er die Aufnahmen am Computer zusammen und illustrierte mit Photoshop darüber. Das Gesicht erscheint so hyperreal, beinahe surreal. Der offenstehende Mund wird zum Gefäß, aus dem Kirschen oder Blumen wachsen. Für Teen Vogue bemalte er die Lippen des Instagram-Models Taylor Hill mit Hashtags, Emojis und Dollarzeichen. "Du kannst dem Bild mit Photoshop neue Ebenen zufügen, Geschichten erzählen", sagt Sannwald.

Um die Abbildung von Wirklichkeit geht es hier dann schon wieder nicht, nicht einmal um ihre Vortäuschung. Oder wie es der Brite Nick Knight, der zu den visionärsten Fotografen unserer Zeit gehört, einmal formulierte: "Wenn du Realität willst - guck aus dem Fenster."

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