Lokaltermin:Artichoke

Auf Schloss Wolfsbrunn im Erzgebirge logierten schon Nazis und FDJ. Doch heute geht es hier um ganz unideologische Gourmetküche. Ein Segen!

Von Philipp Maußhardt

Lokaltermin: Artichoke heißt das Restaurant von Schloss Wolfsbrunn.

Artichoke heißt das Restaurant von Schloss Wolfsbrunn.

Das Restaurant von Schloss Wolfsbrunn im Erzgebirge steht gerade ohne Küchenchef da. Ärgerlich, aber vielleicht sollte man gar nicht weiter nach einem suchen, überlegt unser Autor. Im Artichoke kriegen sie es offenbar auch ohne Chefkoch hin. Beim Menü fehlte es jedenfalls an nichts.

Das Erzgebirge zählt zu den unterschätzten Regionen der Republik. Vielen werden zu dem Ziel womöglich die radioaktiven Bäder zur Behandlung von Gelenkerkrankungen oder die Weihnachtsmärkte einfallen. Oder der Abstiegskampf des FC Erzgebirge Aue. Dass man hier auch hervorragend essen kann, hat sich dagegen weniger herumgesprochen. Was sich schon daran zeigt, dass wir - gut, es ist Montagabend - im Speisesaal des Restaurants "Artichoke" die einzigen Gäste sind. Es war aber auch nicht leicht, im Dunkeln die Einfahrt zur schlossartigen Anlage von Wolfsbrunn zu finden, die zehn Kilometer nördlich von Aue liegt. Ein paar Jäger, die auf einem Grundstück an der Straße dabei waren, die frisch erlegten Wildschweine zu sortieren, wussten zum Glück Bescheid: über die Brücke, den Berg rauf und dann gleich links.

Das wuchtige Gebäude, in dem auch ein Boutique-Hotel untergebracht ist, sieht mit seinen runden Erkern und dem Turm zwar aus wie ein Schloss, doch wirkt es dafür zu neu. Wir gehen die Freitreppe aus Sandstein hinauf und treten ein in einen holzgetäfelten Empfangsraum. Eine freundliche Frau weist den Weg zum Restaurant, und bald nehmen wir Platz in einem ovalen Zimmer, unter einer von Säulen getragenen Stuckdecke, an den Wänden: Jugendstiltapete. Bei Tisch liefert ein Faltblatt dann Aufklärung zur Geschichte des Hauses und seinem historistischen Potpourri: erbaut von einem reichen Bergwerksbesitzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts, später unter den Nazis ein Schulungszentrum der NSDAP, dann in der DDR Pionierleiterschule der Freien Deutschen Jugend. Vielleicht ist es nur konsequent, das Haus mal einem so unverdächtigen Thema zu widmen wie dem Genuss.

Ein junger, ebenfalls ausgesucht freundlicher Kellner bringt sofort die Speisekarte, er wird sich später vorstellen als Nils Leonhardt. Die Leonhardts sind die Besitzer von Wolfsbrunn, eine Unternehmerfamilie, deren Geld - hier schließt sich ein Kreis - dem Fußballclub Erzgebirge Aue in die 2. Bundesliga half. Die Karte klingt - trotz ihrer Kürze - überraschend aufregend. Schon die Vorspeisen des Drei-Gang-Menüs (45 Euro) machen einem die Entscheidung schwer: Winterbrühe von der Gans mit Beifuß; Gänseleber und Lauch; Tamarillo-Falafel mit Schafsbrie, schwarzem Knoblauch und Artischocke; Kürbisschaumsuppe mit Wildschweinschinken, Stollen und Salbei; Kaninchenpastete mit Blutorange, Karamell und Birne; Feldsalat mit Gänseklein, Roter Bete und Lebkuchenschokolade. Am Ende nehmen wir die Kaninchenpastete und die Kürbisschaumsuppe.

Inzwischen ist ein weiterer Gast eingetroffen, ein Jäger aus Österreich, das ist nicht zu überhören, er spricht so laut in sein Handy, dass wir bald auch seine Abschusserfolge der letzten Tage kennen: "Drei Sauen und ein Damhirsch". Zum Glück nimmt uns die Vorspeise jetzt völlig in Anspruch: Die Kaninchenpastete ist in festem und doch zartem Fleisch verpackt, das durch die Früchte (Gelee und süßsäuerlich eingelegte Birnenschnitze) zu einer leicht bitteren Karamellsauce wie ein köstlicher Magenöffner wirkt. Die Kürbisschaumsuppe mag gewöhnlich klingen, aber in Kombination mit dem hauchfeinen Wildschweinschinken und der kross gebratenen Stollenschnitte zu geröstetem Salbei schmeckt sie fast schon exotisch. Die Aromen irgendwo angesiedelt zwischen weihnachtlich-winterlich und mediterran; erstaunlich, aber es funktioniert.

Ebenso angetan sind wir von den Hauptgängen; Keule und Brust vom Rebhuhn und gefülltes Kotelett (!) vom Meersaibling. Rebhuhn findet man selten auf Speisekarten, was schade ist, denn der Wildvogel vereint die Eigenschaften von zartem Geflügel mit der Intensität von Wild. Die Sauce dazu ist von herrlicher Tiefe, kräftig, aber nie dominant; und die Schrotkugel, die wir auf dem Teller finden, rundet das Ganze gewissermaßen stilecht ab. Glücklich macht auch der Saibling, der tatsächlich "am Knochen" serviert wird, mit feiner Fisch-Gemüse-Füllung und begleitet von drei schwarzen Ravioli, wiederum gefüllt mit einer Farce aus Jakobsmuscheln.

Kompositorisch und handwerklich tadellos ist auch das Dessert. Ein mit Zuckerfäden verschnürtes Päckchen aus Valhrona-Schokolade auf einer sämig-fruchtigen Passionsfruchtsauce und einem Sorbet von Tannensprossen lässt uns mit der Frage zurück, warum das Lokal so wenig Gäste hat, und das bei einem so günstigen Preis für drei hervorragende Gänge? Noch mehr aber verwundert, dass das Artichoke derzeit ohne Küchenchef ist. Nach Weggang des bisherigen Chefs Alexander Ziller ist das verbliebene Küchenteam derzeit zwar führungslos, aber offenbar alles andere als kopflos. Man versuche eben, sich "ins Zeug zu legen", wie Nils Leonhardt erzählt. Fast sind wir bereit, dem Haus am Ende zu wünschen, dass es keinen neuen Koch findet, so wie es in der Küche zu laufen scheint.

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