Dem Geheimnis auf der Spur:Telegener Blutsauger

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Angeblich läuft das mysteriöse Ungeheuer auf zwei Beinen mit langen Klauen. (Foto: mauritius images)

Er tötete Ziegen in Puerto Rico, riss Hunde in Texas und war ein Star bei "Akte X": Wie es der Chupacabra zu Popruhm gebracht hat.

Von Sofia Glasl

Wie übersichtlich die Welt zu sein scheint, wenn alles, was da kreucht und fleucht, schön katalogisiert ist. Der Magier und Wissenschaftler Newt Scamander aus J. K. Rowlings Zauberwelt sammelt und klassifiziert magische Kreaturen, von A wie Acromantula, den feindseligen Riesenspinnen, bis Z wie Zentaur. Sein Lexikon "Fantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind" wird für den Novizen Harry Potter ein knappes Jahrhundert später zu den Standardwerken gehören.

In der Muggelwelt, also der Realität von Rowlings Lesern, verhält es sich mit der Katalogisierung von Fabelwesen aber nicht so einfach. Newt Scamander würde hier entweder für verrückt erklärt, oder er wäre Kryptozoologe. In diesem Randgebiet der Wissenschaft wird nach Beweisen für Fabelwesen gesucht. Es erscheinen auch hier Lexika zu Kryptiden, so der Fachbegriff für noch nicht entdeckte Spezies. Neben zeitlosen Stars wie dem Ungeheuer von Loch Ness, dem Yeti und dem Bigfoot gibt es viel jüngere, noch zu verifizierende Arten.

Eine Augenzeugin beschrieb das Monster als gefährliche Mischung aus Mensch und Reptil

Einer ihrer schillerndsten Vertreter ist der Chupacabra. 1995 wurde er erstmals in Puerto Rico gesichtet und erhielt seinen Namen, weil er angeblich mehrere Ziegen wie ein Vampir ausgesaugt hatte - "chupar" bedeutet im Spanischen "saugen", "cabra" ist die Ziege. Gesehen haben ihn die wenigsten, darüber berichten wollten sofort alle. Die Augenzeugin Madelyne Tolentino beschrieb den Chupacabra als gefährlichen Zweibeiner mit langen Klauen und Stacheln entlang der Wirbelsäule, als blutsaugenden Hybrid aus Mensch und Reptil. Ausgehend davon häuften sich in den nächsten Jahren Berichte von Chupacabra-Sichtungen überall in Lateinamerika. Gerüchte von einem misslungenen amerikanischen Experiment machten die Runde und schürten Verschwörungstheorien. In vielen Fällen handelte es sich nicht um Sichtungen, es wurden nur immer wieder Schafe, Ziegen oder Hühner mit ähnlichen Bissspuren und angeblich blutleer aufgefunden. Selbst wenn kaum jemand den Chupacabra zu Gesicht bekam, die Indizien sprachen für seine Existenz - schließlich hinterließ Bigfoot auch zum Namen passende Spuren. Ob Name oder Spuren zuerst da waren, schien unwichtig zu sein. Aus Schauerstories wurde Folklore, aus gerissenen Ziegen ein moderner Nachtmahr.

Im Jahr 2005 trat der Skeptiker Benjamin Radford als Spielverderber die Suche nach dem Chupacabra an. Seine Erkenntnisse hielt er 2011 nach langjähriger Recherche im wissenschaftlich fundierten Buch "Tracking the Chupacabra: The Vampire Beast in Fact, Fiction and Folklore" fest. Er wollte die Verwischung von Tatsache und Fiktion rückgängig machen und sammelte daher Medienberichte, befragte Augenzeugen erneut und reiste an entlegenste Orte, um einen Blick auf den Blutsauger werfen zu können. Dabei fiel auf, dass der Chupacabra um 2000 von Südamerika in Richtung Texas übersiedelt war und sein Aussehen geändert hatte. Aus einem humanoiden Reptil wurde ein Vampirhund: Der Chupacabra wurde von nun an als hundeartiger Vierbeiner ohne Fell beschrieben. Eine der bekanntesten Augenzeuginnen war Phylis Canion, die 2007 ein totes Tier bei ihrem Haus im texanischen Cuero gefunden hatte. Sie stilisierte sich zur Chupacabra-Lady und machte den Kryptiden mit Fan-Shirts zu Geld. Dass sich das Tier bei einer DNA-Analyse als Kojote entpuppte, tat kaum noch etwas zur Sache. Doch Radford konnte nachweisen, dass die Häufung der Sichtungen mit einer Räude-Epidemie zusammengefallen war, die viele Hunde und Kojoten entstellt hatte.

Radford bewies auch, dass Madelyne Tolentinos erste Sichtung stark vom 1995 angelaufenen Horrorfilm "Species" beeinflusst war. Darin wird menschliche mit außerirdischer DNA gekreuzt, das Ergebnis ist eine Reptilfrau, deren Beschreibung sich mit Tolentinos Chupacabra deckt. Etwas ernüchternd für ein solches Raubtier, vom Kryptiden zur Zeitungsente abgewertet zu werden. Doch ein Gestaltwandler verdient seinen Namen nicht, wenn er sich nicht mit neuer Hülle selbst gegen die Auslöschung wehren würde. Denn laut Radford wurden alle beschriebenen Merkmale ab einem gewissen Zeitpunkt frei kombinierbar. Chupacabra wurde zum Synonym für fast jede nicht identifizierbare Kreatur. So wurde er in Mysteryserien wie "Akte X" und satirischen Formaten wie "South Park" verwurstet und Lieder wurden ihm gewidmet. Das Monster wurde eine Projektionsfläche für Verschwörungstheoretiker und Pseudowissenschaftler, deren kryptozoologische Verifizierung sich als unmöglich entpuppt, aber den mythologischen Glamour des Chupacabra popkulturell verankert hat.

© SZ vom 11.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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