Zweite Liga:Minütlich dreht der Wind

Daniel Kyereh ( 17, FC St. Pauli) erzielt das Tor zum 2:1 21.09.2020 Fussball, 2. Bundesliga, VfL Bochum vs. FC St. Pau

Erster Teil eines Doppelpacks: Der neue St.-Pauli Stürmer Kyereh (in Weiß) trifft zum 1:2 in Bochum.

(Foto: Horst Mauelshagen/imago)

Kyereh bewahrt St. Pauli beim 2:2 in Bochum vor einem Fehlstart. Das wilde Spiel bestätigt: In dieser Klasse sind Vorhersagen aller Art schwierig.

Von Ulrich Hartmann

Am Montagabend um 22.10 Uhr war der Saisonstart des Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli vollends misslungen. Acht Tage nach dem Pokal-Aus beim Viertligisten SV Elversberg (2:4) lagen die Hamburger auch zum Ligaauftakt beim VfL Bochum 0:2 zurück. Das einzig Positive in diesem Moment war, dass noch sieben Minuten zu spielen waren, und manchmal verändern ein paar Minuten alles. Um 22.17 Uhr war der Saisonstart von St. Pauli plötzlich nicht mehr katastrophal. In der 84. und 86. Minute rettete der neue Stürmer Daniel-Kofi Kyereh seiner Elf mit zwei unverhofften Toren noch ein 2:2 (0:1), durch das sich die nächtliche Heimfahrt nach Hamburg deutlich besser anfühlte.

Gottesfürchtige Pauli-Fans singen vielleicht bald das eine oder andere Kyereh Eleison, denn der vom Zweitliga-Absteiger SV Wehen gekommene Deutsch-Ghanaer hat seinem neuen Klub womöglich nicht zum letzten Mal die Ehre gerettet. Alle drei Toptorschützen der vergangenen Saison, die 29 von 41 Treffern erzielten - Henk Veerman, Dimitrios Diamantakos und Viktor Gyökeres -, haben St. Pauli verlassen, zudem fehlten in Bochum die beiden verletzten Mittelstürmer Boris Taschchy und Simon Makienok. 83 Minuten lang machte der vom Flügel ins Zentrum gerückte Kyereh nicht gerade den Eindruck, als könne er seinem Klub dort hilfreich sein, doch gegen am Ende erstaunlich unbeteiligt flanierende Bochumer zeigte er sich zielstrebig - und rutschte in der letzten Minute sogar nur um Zentimeter am 3:2 vorbei.

Diese Montagabendpartie des ersten Spieltags war jedenfalls schon mal ein Paradebeispiel für diese zweite Liga: Hier dreht nicht nur saisonal oder wöchentlich der Wind - hier ist sogar minütlich mit Umschwüngen zu rechnen. Auch Bochum hatte im Finish noch ausgezeichnete Chancen, um mit einem 3:2 zu kontern.

Wer wüsste besser, wie wetterwendisch es in dieser Liga zugeht, als Bochum und St. Pauli? Die beiden Traditionsklubs sind aktuell die am längsten in der zweiten Liga verhafteten Teilnehmer. 2010 stieg der VfL Bochum aus der Bundesliga ab, jetzt spielt er seine elfte Unterhaussaison in Serie. St. Pauli war 2011 letztmals Erstligist, ist also zum zehnten Mal am Stück Zweitklässler. Beide gehören zum Inventar einer Liga, in der eigentlich ein Kommen und Gehen herrscht wie am Hauptbahnhof. Auch Bochum und St. Pauli standen mehrmals kurz davor, die zweite Liga wieder zu verlassen, je zwei Mal nach oben und je zwei Mal nach unten. Darum sind beide unter dem Strich vielleicht sogar froh, es sich dann doch dauerhaft so eingerichtet zu haben wie einst Hans Castorp auf dem "Zauberberg". Thomas Manns Romanheld wollte im Sanatorium bekanntlich nur kurz seinen Cousin besuchen - und blieb dann sieben Jahre.

Ganz so delirant wie Castorp hat sich St. Paulis angeschlagener Sportchef Andreas Bornemann in Bochum nicht gefühlt. Sein wunder Punkt ist momentan eine gerissene Achillessehne, zugezogen beim Tennis, weshalb er auf Krücken unterwegs war und in der Schlussphase den Drang unterdrücken musste, im Jubel explosiv aufzuspringen. Umso unbeschwerter durfte dies der neue Cheftrainer Timo Schultz tun. Dabei betonte er in einem Fernsehinterview, "als gebürtiger Ostfriese" doch eher "eine gewisse Gelassenheit" an den Tag zu legen. Gemeint hat der 43-Jährige damit allerdings seine Reaktion auf den verpatzten Auftakt in Elversberg und den Gedanken, wie alles wohl weitergegangen wäre, wenn man auch in Bochum verloren hätte. "Schulle", wie ihn im Kiez alle kumpelhaft nennen, will cool bleiben und auch in tristen Phasen seinen vermeintlichen Joker ausspielen: nämlich - anders als sein Vorgänger Jos Luhukay - nach 15 Jahren im Klub die St.-Pauli-DNA im Blut zu haben. Als der Klub 2011 letztmals aus der Bundesliga abgestiegen war, gehörte er zum Spielerkader.

Auch Bochums Trainer Thomas Reis hat bis 2003 acht Jahre für den VfL gespielt. Die Launenhaftigkeit der Ruhrpott-Diva setzt sich auch unter seiner Regie fort. In den neun Spielen nach dem Corona-Restart holte Bochum 18 von 27 Punkten und erklomm noch Platz acht. Nachdem man St. Pauli 80 Minuten lang dominiert hatte, ging die schöne Stabilität aber wieder flöten. In Bochum traut eh niemand mehr einem Zwischenstand - aus Erfahrung. Statt der erlaubten 5000 Zuschauer sollen nur 3500 ins Stadion gekommen sein, und als die schon gewonnen geglaubte Partie remis endete, war die Verzweiflung groß. "Da sind wir wieder in alte Muster verfallen", klagte Spielmacher Robert Zulj - und rätselte über die Gründe. "Wir träumen doch schon so lange vom Wiederaufstieg ...", hatte Torwart Manuel Riemann vor der Partie skeptisch gesagt. Er kennt sich und seine Bochumer Kollegen genau.

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