Dass sie ihn in Hamburg nicht vergessen haben, dürfte für Christian Titz keine große Überraschung sein. Das geht auch gar nicht anders, denn Titz, der seit dreieinhalb Jahren den 1. FC Magdeburg trainiert, war nicht weniger als der erste und einzige Abstiegstrainer des HSV. Doch wie jede gute Geschichte enthält auch diese Geschichte einige Weggabelungen, an denen die Protagonisten anders hätten abbiegen können. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Titz seinen offensiven Radikalansatz etwas weniger radikal ausgelegt hätte und seinen Torwart nicht dauernd an der Mittellinie, sondern ein paar Meter weiter hinten postiert hätte? Und hätten die Hamburger Verantwortlichen nicht auch etwas mehr Geduld mit diesem zweifellos begabten Coach haben können?
Vielleicht, vielleicht wäre dann ja einiges anders gelaufen, so lautet jedenfalls die Arbeitshypothese hanseatischer Fußballhistoriker: Titz hätte nach deren Dafürhalten sowohl das Know-how als auch die Mannschaft gehabt, um der erste Aufstiegstrainer des HSV sein zu können. Wurde er aber nicht. Er wurde am zehnten Spieltag der ersten Hamburger Zweitliga-Saison entlassen und hatte somit am Sonntag die Gelegenheit, zu einer noch dauerhafteren Unterhaus-Zugehörigkeit seines früheren Klubs beizutragen. Hat er aber nicht.
Titz und der furios in die Saison gestartete 1. FCM verloren 1:3, deswegen schamrot anlaufen mussten sie allerdings nicht. Denn die Hamburger präsentierten an diesem Nachmittag eine Version von sich, die als absolut aufstiegsreif angesehen werden kann: ideenreich, ohne dabei die Seriosität zu verlieren. Clever, ohne dabei zu kopflastig zu werden. Und vor allem waren sie charakterfest, als der zuletzt oft wackelige Kapitän Sebastian Schonlau den Ball vertändelte, ausrutschte, einen enteilten Magdeburger Spieler als letzter Mann per Bodycheck zu Fall brachte und sich in der 57. Minute eine absolut vermeidbare rote Karte einhandelte.
Da stand es 3:0, und es gab Zeiten, da hätten sich daraufhin auch alle anderen Hamburger Spieler bäuchlings auf den Rasen gelegt. „Wie die Jungs das wegverteidigt, wie sie sich reingeworfen haben“, sagte HSV-Coach Steffen Baumgart, „das zeigt unsere gute Entwicklung.“ Baumgart ist so etwas wie der Anti-Titz, er steht für eine flexible Spielidee und will sich auch bei Heimspielen anschauen, was der Gegner vorhat. Am Sonntag konnten die ballbesitzlastigen Magdeburger so mit präzisem Umschaltfußball unter Dauerstress gesetzt werden.
Der Ausfall von Robert Glatzel soll erst mal zu keiner Nachverpflichtung führen
Der Spieltag begann mit einer Grußbotschaft von Robert Glatzel aus dem Krankenhaus. Der vielleicht beste Stürmer der zweiten Liga hat sich operieren lassen und wird wegen einer neulich zugezogenen Sehnenverletzung mehrere Monate ausfallen. Zuletzt war deswegen viel über eine Notakquise auf dem Markt für vertragsloser Spieler spekuliert worden, doch der Sportvorstand Stefan Kuntz hat klargestellt, dass vorerst weder Anthony Modeste noch das Hamburger Eigengewächs Eric Maxim Choupo-Moting ein Thema seien. Kuntz hat den Kader vor der Saison um einige Planstellen erweitert und glaubt nun wie der HSV-Coach Steffen Baumgart, dass Glatzels Ausfall seriös aufgefangen werden kann.
Dieser Plan hat seinen ersten Praxistest bestanden: Den ersten Hamburger Treffer erzielte der talentierte, aber mitunter wankelmütige Angreifer Ransford Königsdörffer per Kopf (5. Minute); das dritte Tor ging aufs Konto des resoluten Zugangs Davie Selke, der eine Ecke in bester Mittelstürmer-Manier aus kurzer Distanz über die Linie drückte (45.). Und dazwischen zeigte der Außenverteidiger Noah Katterbach eine aufsehenerregende Übersteiger-Kombination, mit der er seinen Treffer zum 2:0 einleitete (42.). „Was mir gut gefällt, ist die Breite der Torschützen“, sagte Baumgart, der diese Beobachtung unbedingt spielübergreifend verstanden wissen wollte.
Bei der ersten Halbzeit dürfte es sich jedenfalls um die beste HSV-Halbzeit der aktuellen Saison gehandelt haben. Die Hamburger versprühten viel individuelle Klasse, verbanden aber jede Offensivaktion mit dem Teamgedanken und einstudierten Angriffen, bei denen jeder Spieler wusste, was er zu tun hatte. Und nachdem Verteidiger Schonlau vom Platz geflogen war und der Hamburger Miro Muheim auch noch einen Elfmeter verursachte, den der Magdeburger Martijn Kaars (63.) zum Anschluss verwandelte, reagierte die Baumgart-Elf mit viel Resolutheit und insgesamt seriösem Zweitliga-Fußball.
Die Hamburger bleiben somit das sechste Spiel in Serie ungeschlagen und rücken auf Platz drei vor. Und Baumgart, eigentlich ein Mann von norddeutscher Nüchternheit, durfte nach Schlusspfiff ausgelassen über den Rasen hüpfen.