Nordderby HSV gegen Werder:Alte Tanker auf neuem Kurs

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Hatte damit die HSV-Misere angefangen? Bremer Fans verhöhnen 2009 mit einer überdimensionalen Papierkugel den Derby-Gegner. (Foto: Sportfoto/Imago)

Es ist kein Zufall, dass der HSV und Werder Bremen gemeinsam in den Tiefen der Zweiten Liga verschwanden. Doch jetzt, vor dem Nordderby am Sonntag, sind sie wieder da - das hat viel mit zwei sehr gegensätzlichen Trainern zu tun.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Wann hat eigentlich alles angefangen? In Hamburg sind einige Menschen der festen Überzeugung: Angefangen hat alles mit dieser verfluchten Papierkugel.

Damals, im Frühjahr 2009, als der HSV und Werder Bremen im Rahmen der historischen "Derby-Wochen" aufeinandertrafen, zu vier Duellen, in der Bundesliga sowie in den Halbfinals des DFB-Pokals und des Uefa Cups. Goldene Zeiten des Nordfußballs waren das. Die Hamburger, das traut man sich heute kaum auszusprechen, hatten noch ernsthafte Chancen auf die Meisterschaft, und im HSV-Kader standen klangvolle Namen wie Paulo Guerreiro, Mladen Petric oder Ivica Olic. Ähnlich war das bei den Bremern, die Akteure wie den geschmeidigen Claudio Pizarro, den Brasilianer Diego oder den späteren Weltmeister Per Mertesacker aufbieten konnten - und überdies, so sehen das zumindest die Hamburger, diese Papierkugel, die heute im Werder-Museum ausgestellt wird.

Der NDR hat dem verhängnisvollen Utensil eine eigene Dokumentation gewidmet, kein Wunder, denn in dieser Szene lief alles zusammen, was die Leute faszinierend finden am Fußball: Glück und Unglück, Freud und Leid, die Macht des Zufalls. Die Papierkugel war ein Überbleibsel der Hamburger Fan-Choreografie, niemand hätte je von ihr Notiz genommen, wenn sie nicht in den Lauf der Dinge eingegriffen hätte. In der Schlussphase des Europapokal-Rückspiels fälschte sie den Ball zu einer Ecke ab, aus der einer der großen Werder-Momente resultierte und den Weg zum Bremer Finaleinzug ebnete. Torschütze damals: Frank Baumann, heute Ehrenspielführer und Manager in Bremen. Ein Kreis, der sich nur an einem echten Traditionsstandort schließen kann.

Liegt heute im Werder-Museum: Die Papierkugel, ein Überbleibsel einer HSV-Choreografie, durch welche die Bremer im Uefa Cup Halbfinale zu einer Ecke kamen, aus der das 1:3 für Werder folgte. (Foto: Sportfoto/Imago)

HSV gegen Werder, das sind zehn Meisterschaften und drei Europapokale, das sind vor Spielen 100 Kilometer Autofahrt auf der A1 und für hanseatische Verhältnisse geradezu unerhörte Emotionswallungen. Was das 155. Nordderby an diesem Sonntag (Anpfiff 13.30 Uhr) auch ist: ein Duell zweier Unterhaltungsbetriebe, die auf Grund gelaufen sind, sich aber gerade zurück an die Oberfläche bewegen. Werder führt die engmaschige Zweitliga-Tabelle an, nur einen Punkt dahinter folgt der HSV, nach Jahren des permanenten SOS-Funks ist wieder Hoffnung im Fußballnorden zu vernehmen.

Es gibt aber mehr, was die beiden Klubs verbindet, das ambivalente Verhältnis zeigt sich auch in der Geschichte ihrer Städte. Seit der Gründung der Hanse war der Beziehungsstatus zwischen Hamburg und Bremen mal innig und mal kompliziert, aber beide teilen den unbedingten Willen zur Freiheit und einen ehrlichen Sinn fürs Gemeinwohl. Über Jahrhunderte haben kluge Kaufleute die Städte wachsen lassen, später haben kluge Manager in ihnen erfolgreiche Fußballklubs errichtet. Womit man wieder bei der Eingangsfrage angelangt wäre: Was war der Urknall ihres Niedergangs?

Aus HSV-Sicht taugt die Papierkugel-Theorie sicher nicht als letztgültige Erklärung, doch für viele Anhänger und frühere Klubfunktionäre gibt es da sehr wohl einen Zusammenhang. Etwas hat sich damals in der Festplatte des Vereins festgesetzt, glauben sie, ein Virus des Scheiterns, das zu regelmäßigen Systemabstürzen führt. Wer das für Aberglaube oder Voodoo-Zauber hält, der möge eine bessere Erklärung für die vier Zweitliga-Jahre finden, in denen der HSV zwischen Aberwitz und Tragikomik pendelte.

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Spieler und Trainer wurden ausgetauscht, das Resultat jedoch war immer dasselbe: Wenn's drauf ankam, setzte es eine Kakofonie aus Pleiten, Pech und Pannen, die selbst für Kabarettisten eine Nummer drüber wäre. Ein 1:5-Debakel im Hamburger Volkspark gegen den SV Sandhausen, das am letzten Spieltag alle Aufstiegshoffnungen zertrümmert? Kannste dir nicht ausdenken - ist vor zwei Spielzeiten aber genau so passiert. Nach einer 3:0-Halbzeitführung in Hannover noch 3:3 spielen? Eine 2:3-Niederlage beim Abstiegskandidaten Osnabrück, der zuvor sagenhafte 13 Heimspiele in Serie verloren hatte? Und das sind nur ausgewählte Beispiele aus der vergangenen Saison.

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Zum Absaufen verdammt war der HSV freilich nicht, denn der Klub hat vieles, was andere gerne hätten: eine große Geschichte, ein treues Publikum, einen Standort in einer florierenden Millionenmetropole. Es brauchte schon eine immense Fehlerkette, um einen Klub mit Potenzial so lange unter Wasser zu halten. Und es ist kein Zufall, dass die weniger privilegierten Bremer den HSV noch schnell als Verein mit den meisten Bundesligaspielen abgelöst haben, nur um kurz darauf selbst aus der Erstklassigkeit zu verschwinden.

Werder hat sich stets als Gegenmodell zum hochmütigen HSV verstanden, als tapfere Widerstandsbewegung, die mit Vernunft und Kontinuität ans Ziel gelangt. Der Bremer Absturz manifestierte sich aber an dem Punkt, als man vor drei Jahren beschloss, ein bisschen wie der Nordrivale zu sein. Die hanseatischen Prinzipien wurden über Bord geworfen, um nach einer endlich mal wieder guten Saison den Angriff auf die internationalen Plätze einzuleiten, und als der Plan schon zu misslingen drohte, verbreitete sich auch noch die Pandemie im Land und die letzten Geldreserven waren weggeschmolzen.

Hat für Beruhigung gesorgt: Werder-Trainer Ole Werner. (Foto: Stuart Franklin/Getty Images)

Im sportlichen Überlebenskampf entfremdete sich der Verein von seinem Urverlangen nach dem schönen Spiel, der markeneigene Werder-Fußball verkam zum destruktiven Fußball-Verhinderungskommando, weshalb sich bei der Klubführung eine wichtige Erkenntnis durchgesetzt hat: Wo Werder drauf steht, muss künftig auch wieder Werder drin sein, sonst begehe man Selbsttäuschung in Tateinheit mit Etikettenschwindel.

Die Havarie lässt sich aber nur verhindern, wenn sich die alten Tanker neu ausrichten, das wissen die Verantwortlichen in Hamburg und Bremen inzwischen. "Es gab für diese Vereine nie einen schlechteren Zeitpunkt, um in der zweiten Liga zu spielen", sagt ein Branchenkenner, der über einen Einblick in einige Standorte verfügt. Nach den Abstiegen von Werder und des FC Schalke 04 wirkt das Unterhaus wie ein Reha-Zentrum für Traditionsmarken, in der Corona-Zeit müssen sie aber ohne ihre bewährte Gehhilfe auskommen.

Der familiäre "Werder-Weg" bringt zu wenig Subventionen aus der Region

Die geringeren Zuschauereinnahmen schlagen bei den Vereinen mit ihren großen Stadien und teuren Apparaten besonders durch, weshalb der Sicherheitsabstand zu den Heidenheims und Darmstadts kleiner wird, während weiter oben die in Teilen fremdfinanzierten Retortenklubs aus Wolfsburg, Leipzig oder Hoffenheim immer weiter davonziehen. Mit kreativen Lösungen angesichts der veränderten Wettbewerbsbedingungen tun sie sich weiter schwer im Norden, der HSV bekommt zum Beispiel seit zwei Jahren die Namensrechte fürs Volksparkstadion nicht verkauft, und der familiäre "Werder-Weg" erweist sich bislang als wenig attraktiv für Subventionen aus der Region.

Es hat aber auch gute Gründe, dass einer wie Rodolfo Cardoso den HSV und Werder "auf dem richtigen Weg" verortet. Cardoso, 53, war früher mal ein versierter Spielmacher bei den beiden Nordgrößen, als aktueller Hamburger Jugendcoach sieht er sich vor dem "wichtigsten Nordderby seit Jahren" nicht ganz unbefangen. Der Argentinier kennt aber die Milieus und ihre Fliehkräfte, und für ihn steht deshalb fest: "Die Art und Weise muss Spaß machen, du musst die Leute mit Angriffsfußball packen."

Hat neuen Schwung gebracht: HSV-Coach Tim Walter. (Foto: Uwe Anspach/dpa)

In der Tat war die Stimmung lange nicht mehr so positiv im Norden, die Vereine "mussten zu ihrem Glück aber auch ein bisschen gezwungen werden", sagt Cardoso. Was er meint: In Hamburg und Bremen haben sie die jeweils idealen Trainer für den Wiederaufbau gefunden, nur war das Schicksal an deren Verpflichtung mindestens genauso beteiligt wie die Verantwortlichen. Der HSV-Sportvorstand Jonas Boldt musste sich dem Vernehmen nach erst zwei, drei Absagen einhandeln, ehe er im Sommer Tim Walter als neuen Coach engagierte. Und der Werder-Manager Baumann konnte Ole Werner im November nur deshalb nach Bremen holen, weil sich die Dinge entsprechend gefügt hatten: Werner hatte gerade seinen Job bei Holstein Kiel quittiert und war auf dem Markt, als bei Werder ein Nachfolger für den als Inhaber eines gefälschten Impfpasses überführten Markus Anfang gesucht wurde.

Die beiden Trainer sind in ihrem Wesen jeweils der Gegenentwurf des anderen, sie bedienen aber die individuellen Bedürfnisse ihrer Klubs und verfolgen einen artverwandten Spielstil. Walter ist ein Fußballlehrer, der einen unkonventionellen Offensivfußball spielen lässt und hinter den Kulissen im besten Sinne unangenehm sein kann. Genau so ein Typ war wohl nötig, um dem verkrusteten HSV wieder Leben einzuhauchen. Wohingegen die Bremer nach turbulenten Jahren von Werners norddeutscher Besonnenheit profitieren. Was sie eint: Beide Trainer sind fähige Talententwickler und haben eine Heidenfreude daran, die Potenziale aus den beiden jüngsten Zweitliga-Kadern zu Tage zu fördern.

Am Ende, sagt Rodolfo Cardoso, zähle aber "der sportliche Erfolg", und damit zielt ein früherer Europapokal-Akteur des SV Werder und des HSV natürlich nur auf eines ab: den Aufstieg.

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