Zweite Bundesliga:"1860 überlebt nur mit innerer Solidarität"

Löwen-Trainer Ewald Lienen über dominanten Fußball, ein Team für die erste Liga und neue strenge Richtlinien für Verträge mit Talenten.

M.Kielbassa, G.Kleffmann

Ewald Lienen, 55, ist seit 13.Mai Cheftrainer des Fußball-Zweitligisten TSV 1860 München. Der gebürtige Ostwestfale war Bundesliga-Profi in Bielefeld, Mönchengladbach und Duisburg, seine Trainerstationen waren seit 1989: MSV Duisburg, Hansa Rostock, 1.FC Köln, CD Teneriffa, Borussia Mönchengladbach, Hannover 96 und zuletzt Panionios Athen. In Köln gelang ihm in der Saison 1999/2000, was er sich nun auch bei 1860 zum Ziel gesetzt hat: der sofortige Aufstieg in die erste Liga.

Zweite Bundesliga: "Den Luxus, sich eine Philosophie leisten zu können, hat man beim FC Bayern": 1860-Trainer Ewald Lienen.

"Den Luxus, sich eine Philosophie leisten zu können, hat man beim FC Bayern": 1860-Trainer Ewald Lienen.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Lienen, 1860 fehlte auf dem Platz zuletzt ein klares strategisches Konzept. Welche Spielidee bevorzugen Sie?

Lienen: Den Luxus, sich eine bestimmte Fußball-Philosophie leisten zu können, hat man beim FC Bayern, dort kann ich eine Mannschaft ganz nach meinen Vorstellungen bauen - obwohl auch den Bayern die kriminelle Energie fehlt, um Unsummen auszugeben wie es in anderen Ländern passiert. Bei 1860 muss man mit den Möglichkeiten arbeiten, die man hat. Trotzdem versuche ich das Bestmögliche einzubringen: Ich liebe guten Fußball.

SZ: Definieren Sie das bitte.

Lienen: Guter Fußball heißt: viel Ballbesitz, gepflegtes Kombinationsspiel, ein Spielaufbau, an dem sich alle Mannschaftsteile beteiligen - und in der Offensive besondere Spieler, die auch mal ein Dribbling gewinnen. Ich will Passion sehen, Aggressivität, den unbedingten Willen, das Spiel zu dominieren. Und wenn sich ein guter Spieler nicht auch taktisch in der Defensive einbringt, ist er für mich kein guter Spieler. Ich brauche keine Super-Individualisten für die Galerie.

SZ: Klingt nach einem vernünftigen Plan für die kampfbetonte zweite Liga.

Lienen: Wenn ich 5:0 führe, kann ich spanisches System spielen, olé, olé, olé, alle jubeln. Sonst nicht. Trotzdem, wenn man, wie wir, oben mitspielen will, braucht man auch in der zweiten Liga ein eigenes Gesicht. Da reicht es nicht nur, zu rennen und zu kämpfen.

SZ: Das Gesicht von 1860 war zuletzt stark von der Jugend geprägt. Jetzt wirkt es so, als würden Sie eine Mannschaft mit mehr Routine bauen. Fehlten Sechzig zuletzt reife, ältere Spieler?

Lienen: Es geht um Erfahrung und Führungsqualitäten, nicht ums Alter, es gibt auch erfahrene 25-Jährige. Ich hätte gerne Grigoris Makos geholt (griechischer Nationalspieler von Lienens Ex-Klub Panionios Athen, d. Red.), was finanziell leider unmöglich war, der ist erst 22, war aber schon mit 17 Stammspieler in der ersten Liga. 1860 braucht Leute mit Persönlichkeit, an denen sich unsere Talente orientieren können. Junge Himmelsstürmer, die mit voller Energie marschieren, sind auch in Zukunft wichtig. Aber wir brauchen eine Struktur auf dem Platz.

SZ: Manager Stevic wünscht sich für die Hierarchie eine stabile Mittelachse, vom neuen Torwart Király bis zum Sturmführer. Kommt auch noch ein Leitwolf fürs zentrale Mittelfeld? Der Name Dietmar Hamann geistert durch die Medien.

Lienen: Es ist der Idealfall, wenn in der Mitte ein absoluter Leader organisiert - Typen wie Soldo, der jetzt Trainer in Köln wird und schon als Spieler ein Lenker war. Oder van Bommel. Wir konzentrieren unsere Geldmittel jetzt noch auf einen Topstürmer - und auf einen solchen defensiven Mittelfeldmann. Aber an Hamann denken wir nicht. Und jeder im Kader ist herzlich eingeladen, mein verlängerter Arm zu sein. Sascha Rösler zum Beispiel könnte das, wenn er topfit ist, er hat das Alter, die Kompetenz, die Spielübersicht. Bei Benny Lauth ist der Name nicht gerade Omen, laut ist er nicht - aber auch er muss mit gutem Beispiel vorangehen.

SZ: Die sportliche Messlatte liegt sehr hoch, Sechzig will 2010 aufsteigen.

Lienen: Sonst wäre ich nicht hierher gekommen. 1860 ist ein schlafender Riese mit Erstliga-Historie und -Logistik und mit einem riesigen Fanpotential. Soll ich den Leuten etwa erzählen, dass wir wieder Zwölfter werden wollen? Ich weiß aber: Anspruchsdenken alleine reicht nicht. Ich habe schon einmal bei so einem Klub in der zweiten Liga gearbeitet.

SZ: In Köln. Auch bei 1860 ist die Erwartungshaltung chronisch überladen.

Lienen: Der Fall ist anders. In Köln war der Anspruch, in der ersten Liga oben mitzuspielen, obwohl man davon Lichtjahre entfernt war. Mit so einer Mentalität, die an Arroganz grenzt, gewinnst du nichts, da musste ich erst mal dazwischenhauen und die Leute auf den Boden holen. Bei 1860 ist der Wunsch, erste Liga zu spielen, verständlich und korrekt, man gehörte ja bis 2004 zehn Jahre dazu.

SZ: Wie kommen Sie im hektischen Milieu eines Traditionsklubs wie 1860 klar?

Lienen: Ich denke, die Leute hier lechzen danach, wieder guten Fußball zu sehen. Deshalb brauchten wir Zeit bei der Kaderplanung. Wir hätten in meinen ersten vier Wochen 80 Spieler verpflichten können, aber wir wollten die bestmöglichen finden, trotz des engen Budgets. Wir wollen ein Team mit Perspektive bauen, aus dem man selbst im Aufstiegsfall nicht viele Spieler wegschicken müsste. Gladbach hatte 2008 eine souverän durchmarschierte Zweitliga-Elf, in der aber danach zu wenige Spieler das Erstliga-Tempo mithalten konnten. Wir denken längerfristig.

SZ: Ist der Trainer Lienen souverän genug, um über den für 1860 so typischen Lagerkämpfen von Fans und Funktionären zu stehen? Sie sagen, "Harmonie im Arbeitsumfeld" sei Ihr oberstes Gebot.

Lienen: Bisher spüre ich bei 1860 nur Harmonie. Störfeuer und Bomben werden kommen, klar, aber es kommt darauf an, wie stark wir innen sind. Die Kommunikation mit den Fans werde ich daher suchen, Erfolg geht nur gemeinsam. Wir wollen keine blinde Gefolgschaft, aber ich wünsche mir eine Atmosphäre wie in England. Da liegt die Heimelf 0:3 hinten - und das ganze Stadion ruft: "Newcastle!, Newcastle!" Natürlich muss die Mannschaft dafür in Vorleistung gehen.

Lienen über Transfers bei 1860 und die Stadt München

SZ: 1860 nimmt eher die Fans in Vorleistung: Die Ticketpreise wurden erhöht.

Lienen: Stimmt. Ich verstehe, dass das viele nicht nachvollziehen können nach der letzten Saison. Aber leider haben wir nach fünf Jahren zweite Liga kein Geld für große Sprünge. Die Preiserhöhung ist eine nötige ökonomische Basis, um sportlich auf ein höheres Niveau zu kommen.

SZ: Überrascht haben Sie kürzlich mit einer Brandrede: Sie nannten es einen "Skandal", wie Ihre Vorgänger mit einigen Nachwuchsspielern umgingen, die nun den Verein verlassen haben.

Lienen: Das war der Tag, als ich erfuhr, dass Julian Baumgartlinger zu Austria Wien wechselt. Ich war total verärgert. Inhaltlich bleibe ich dabei: Ich verstehe nicht, warum man Jahre in einen jungen Spieler investiert - und niemand hier erkennt, dass das ein Toptalent ist.

SZ: Trotzdem erschien die Pauschalkritik absurd: Kein anderer deutscher Profiklub hat in den letzten Jahren so viele Talente in den Spielbetrieb integriert wie 1860 - häufiger wurde der gegenteilige Vorwurf des "Jugendwahns" erhoben.

Lienen: Es ging mir um Baumgartlinger - und um Nikola Gulan: Der wird ein halbes Jahr vom AC Florenz ausgeliehen, wechselt jetzt wohl für Millionen zu Lazio Rom, aber er spielt hier nur ein einziges Mal! Ich finde es schade, dass mein Vorgänger diesen Spieler nicht gut genug für 1860 hielt. Gulan hätte Spielkultur reinbringen können, und Julian Baumgartlinger wollte ich schon 2007 nach Athen holen: ein aggressiver, kompakter, polyvalenter Spieler. Wenn meine Vorgänger deswegen beleidigt sind, kann ich das nicht ändern. Natürlich weiß ich, dass die Jugendarbeit hier erstligareif ist. Aber man kann jede Ausbildung noch verbessern.

SZ: Sie selbst aber lassen Michael Schick zum FC Augsburg wechseln, der in der Rückrunde gut debütierte. Und Sven Bender geht nach Dortmund. Wie passt das mit Ihrer Kritik zusammen?

Lienen: Bei Schick ist es eine sportliche Einschätzung. Ich finde ihn nicht so stark, ich stelle mir auf seiner Position etwas anderes vor. Und man kann eben nicht alle Talente halten. Wenn wir jedes Jahr zwei, drei A-Junioren auf Topniveau entwickeln, ist das ein Erfolg. Aber dann müssen diese Leute auch spielen. Und wir müssen entscheiden: Bleiben sie und werden feste Bestandteile der Mannschaft - oder benutzt man sie, um mit Ihrer Ablöse das Team anderweitig zu verstärken.

SZ: Wie jetzt beim Tausch: Rechtsverteidiger Rukavina für Sven Bender.

Lienen: Ja, ein reicher Erstligist käme nie auf die Idee, seine besten Leute abzugeben. Der VfB Stuttgart muss Timo Gebhart nicht für drei Millionen verkaufen - 1860 schon, weil es die einzige Chance ist bei unserem strukturellen Defizit.

SZ: Sie kommen aus Westfalen, haben meist bei West-Klubs gearbeitet. Jetzt sind Sie samt Familie - Schwiegersohn Abder Ramdane ist ja Ihr Assistent - nach München gezogen. Schon heimisch?

Lienen: München ist eine wunderschöne Stadt, ich hatte vorher immer nur die Hotelgegend und das Olympiastadion gesehen. London, Paris und Berlin habe ich besser gekannt als München. Es gibt hier traumhafte Ecken, ich liebe alte Häuser. Wer drei Jahre in Athen mit seinen vielen Wohngettos gelebt hat, für dessen Auge ist München eine Wohltat. Und wir haben eine schöne Wohnung gefunden, mitten im Leben, mit Cafes und Geschäften vor der Haustür - nicht in Grünwald.

SZ: Beim Kennenlerngespräch mit den Journalisten zählten Sie die vielen Vorurteile über sich selbstironisch auf: den tüftelnden "Zettel-Ewald", den humorlosen Kauz und Pressefeind oder den politisch motivierten Linksintellektuellen. Kurz danach erschien die dicke Schlagzeile: "Pazifist Lienen spielt Krieg" - Sie hatten die Spieler im Training mit dem Wort Krieg motiviert. Nerven Sie solche Schlagzeilen, die Klischees bedienen?

Lienen: Nein, dazu bin ich zu lange im Geschäft, da müssen sie mich schon total auf dem falschen Fuß erwischen. Zum Beispiel an einem Tag, wenn zwei tolle Talente ablösefrei gehen. Darüber habe ich das Recht, mich aufzuregen.

SZ: Sie sind gerade wieder dabei.

Lienen: Wenn ich solche Talente ausbilde, muss ich dafür sorgen, dass ich langfristig die Transferrechte habe. Es kann nicht sein, dass ich hierher komme, und ein Manuel Schäffler oder ein Fabian Johnson haben nur noch ein Jahr Vertrag.

SZ: Der VfL Wolfsburg und angeblich Bremen wollen Johnson abwerben.

Lienen: Ja. Entweder wir geben ihn jetzt teuer ab - oder wir verlängern sofort den Vertrag! Leute wie Johnson sind das Kapital des Vereins. Jetzt kommen Klubs und sagen: Okay, wenn Ihr zu viel wollt, nehmen wir ihn 2010 ablösefrei.

SZ: Und Sechzig muss das hinnehmen.

Lienen: Weit gefehlt, weit gefehlt! Da nehmen wir gar nichts hin, jetzt bin ich wieder kurz vor einer Brandrede. Hier wird sich einiges ändern. Wenn ein Spieler und sein Berater meinen, dass man nach sieben Jahren Ausbildung ablösefrei gehen kann, wird er bei uns nie mehr spielen. Das gehört künftig zur Philosophie bei 1860. Wer hier groß wurde, der muss den Anstand haben, etwas zurückzugeben. Sonst reagieren wir kompromisslos.

SZ: Heißt konkret: Wenn Fabian Johnson jetzt gehen will...

Lienen: ...wollen und werden wir ihn halten, es sei denn, es wird eine angemessene Summe aufgerufen, die uns an anderer Stelle hilft. Bleibt er aber hier und ist nicht bereit, seinen Vertrag zu verlängern, spielt er bei mir keine Rolle mehr.

SZ: Harte Worte.

Lienen: Das ist total korrektes Verhalten, nicht im Geringsten Erpressung. Diese Haltung ist die einzige Möglichkeit für 1860, zu überleben. Der SC Freiburg hat so jahrelang in der ersten Liga überlebt, weil es dort diese innere Solidarität gab und man für alle ausgebildeten Talente entschädigt wurde. Wir reden ja nicht davon, dass Johnson zu Arminia Bielefeld wechseln soll, sondern zu einem Klub, der nicht weiß, ob er diese Saison 25 oder 35 Millionen ausgibt, die zahlen einen Johnson aus der Portokasse. Nein, ich investiere nicht ein Jahr Arbeit in einen Spieler, damit er 2010 kostenlos geht und mir dann durch mein Fernsehbild läuft. Und es wird auch nicht mehr so sein, dass ein einzelner Berater sechs Spieler oder mehr bei uns hat, so gerät man in eine Abhängigkeitsfalle. Miki Stevic, Manfred Stoffers und ich sind uns da völlig einig. Das ist beschlossene Sache, Feierabend!

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