French Open:Zverev ist der Schattenschleicher

Deutschlands Nummer eins gefällt sich in Paris in der Rolle des unbemerkten Passagiers. Gegen Carlos Alcaraz gelingt ihm gar die beste Grand-Slam-Partie seiner Karriere - und nun könnte er sogar Rafael Nadal ernsthafte Probleme bereiten.

Von Gerald Kleffmann, Paris

John McEnroe, der alte Rocker, der in seinem früheren Leben recht passabel mit einem Holzschläger umgehen konnte, ist zwar nicht mehr in seiner Paraderolle als Commissioner of Tennis im Fernsehen zu bewundern, dafür treibt er als Kommentator bei Eurosport schon noch sein Unwesen. Bei dem 63-jährigen New Yorker, der auch wie ein New Yorker aussieht, lohnt sich das Hinhören immer. Er hat klare Meinungen wie wenige. Die ewigen Verzögerungen, dieses Zupfen und Handtuch-Abwischen von Rafael Nadal vor dessen Aufschlag? "Er sollte bestraft werden, das ist ein Witz", haute er raus, während der Spanier in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in einem nicht ganz unwichtigen Match mit Novak Djokovic auf dem Court Philippe Chatrier rackerte.

Den Serben verteidigte McEnroe indes. "Kein Spieler musste je mit mehr Widrigkeiten klarkommen", sagte er und zielte darauf ab, dass Djokovic, verglichen mit Nadal und einem fitten Roger Federer, stets die etwas geringeren Sympathien auf dem Platz genießt. Und zu Alexander Zverev? Fiel McEnroe diese Analyse ein: "Das Beste, das Zverev passieren konnte, war Alcaraz. Niemand in diesem Turnier hat über Sascha geredet."

Und wieder lag McEnroe richtig. Wobei er hätte ergänzen müssen: Ab jetzt müssen aber alle über Zverev reden. Der Hamburger ist ins Halbfinale der French Open geschlichen. Und er kann - vielleicht ist das jetzt ein guter Zeitpunkt, um das zu erwähnen - die Nummer eins der Welt werden, sollte er in Roland Garros triumphieren.

Gewinnt Zverev das Turnier, schnellt er auf Platz eins der Weltrangliste

Vor allem meldet Zverev, deutlich wie selten, selbst Ansprüche auf neue Großtaten an. "Er ist dieses frische Gesicht im Tennis, und alle wollen etwas Neues sehen", so sprach Zverev kürzlich etwa über den jungen Spanier Carlos Alcaraz, der auf Platz sechs in der Weltrangliste schoss und allseits gefeiert wird. "Am Ende des Tages", erinnerte Zverev fast belustigt, "weiß ich auch immer noch, mit meinen alten 25 Jahren, bin ich immer noch die Nummer drei der Welt." Und so klang Zverev fast schon genussvoll, als er meinte: "Ich habe gerade den aktuell besten Spieler der Welt geschlagen." Die Tatsache, dass Alcaraz ins Scheinwerferlicht getaucht worden ist, hat ihn merklich motiviert.

Zverevs 6:4, 6:4, 4:6, 7:6 (7)-Erfolg, den ihm in der Tat nicht viele Beobachter zugetraut hatten, bestätigte ihn nun auch in dem Glauben: Er kann auch den nächsten Gegner besiegen. Das mag nach einer Selbstverständlichkeit bei einem Leistungssportler höchster Güte klingen, doch das ist es nicht. Wie die Rollenverteilung ist, wenn Rafael Nadal auf jenen Ascheplatz schreitet, auf dem er 13 Mal den Pokal überreicht bekam, brachte der französische Ex-Profi Fabrice Santoro auf den Punkt: "An dem Tag, an dem er nicht der Favorit ist, bedeutet das, dass er in Mallorca ist." Nadal stammt aus Manacor.

French Open: Da geht er dahin: Während Rafael Nadal noch langsam seine Siebensachen packt, macht sich der enttäuschte - und enttäuschende - Titelverteidiger Novak Djokovic vom Acker.

Da geht er dahin: Während Rafael Nadal noch langsam seine Siebensachen packt, macht sich der enttäuschte - und enttäuschende - Titelverteidiger Novak Djokovic vom Acker.

(Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

Mehr noch als Zverev - der Schattenspieler dieser French Open, der in diesem Turnier einige Stotterphasen zu überstehen und in der zweiten Runde gegen den Argentinier Sebastian Baez einen Matchball abzuwehren hatte - hat sich Nadal auf noch wundersamere Weise gesteigert im Verlauf des Turniers. Zuletzt hatte sich sein Müller-Weiss-Syndrom im linken Fuß wieder bemerkbar gemacht, eine Verknorpelung, die ihn chronisch plagt. Er habe vor zwei Wochen nicht gewusst, ob er es zu den French Open schaffe, hatte Nadal erzählt.

Solche Gedankenspiele hörte die Tennisbranche freilich schon oft von ihm. Es klang folglich etwas spitz, als Novak Djokovic nach der am 31. Mai gegen 21 Uhr gestarteten und am 1. Juni um 1.15 Uhr beendeten 2:6, 6:4, 2:6, 6:7 (7)-Niederlage nach 4:12 Stunden meinte: "Es ist nicht das erste Mal, dass er wieder rauskommt und 100 Prozent fit ist, einige Tage nachdem er verletzt war und kaum laufen konnte." Nadal wurde dann gefragt, wie es möglich sei, in seiner Verfassung binnen 48 Stunden mehr als acht Stunden zu spielen. "Es ist nicht der Moment, darüber zu reden", antwortete er. Nach dem Turnier werde er mehr erklären.

Auffallend oft sprach er in diesen Tagen davon, jedes Match könnte sein letztes bei den French Open sein. Und da stellt sich umgehend die Frage: Warum sollte er nach einem womöglich bühnenreifen Abschied aus Paris überhaupt noch weiterspielen?

Ein ungewohntes Bild: Zverev lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Das tut seinem Spiel auffällig gut

Erst einmal tritt er am Freitag - seinem 36. Geburtstag - im Halbfinale gegen Zverev an. (Der Kroate Marin Cilic bezwang am Mittwochabend etwas überraschend den Russen Andrei Rubljow 5:7, 6:3, 6:4, 3:6, 7:6 (10:2) und rückte ins zweite Halbfinale vor.) Und anders als Djokovic, der gegen Nadal zu keinem Zeitpunkt aussah, als würde er sich in der unwirtlichen Night Session vor parteiischem Publikum wohlfühlen, verströmt Zverev den Eindruck, als könnte er Nadal Probleme bereiten - sogar auf Sand, sogar in einem "Best of 5"-Match. Der Hamburger war so zufrieden mit seiner in der Tat beeindruckenden Leistung gegen Alcaraz, dass er diese Partie als die bislang beste seiner Grand-Slam-Karriere einstufte.

Bemerkenswert war auch, wie stoisch ruhig Zverev, der Impulsive, geblieben war. Erstmals gelang ihm im zwölften Versuch ein Sieg gegen einen Kollegen aus den Top Ten, ein Fakt, den er nicht zu hoch hängen wollte, aber auch gerne mitnahm: "Ich war relativ zuversichtlich, dass es irgendwann kommen würde. Und wenn ich dazu bereit bin, bin ich dazu bereit."

French Open: Entschärfte das Powertennis seines jungen Widersachers Carlos Alcaraz: Alexander Zverev wird im Viertelfinale der French Open für kluges Tennis belohnt.

Entschärfte das Powertennis seines jungen Widersachers Carlos Alcaraz: Alexander Zverev wird im Viertelfinale der French Open für kluges Tennis belohnt.

(Foto: Adam Pretty/Getty Images)

An Selbstvertrauen wird es Zverev im Halbfinale gegen Nadal nicht mangeln, zumal er, ob er will oder nicht, auch am Freitag nicht die Hauptperson sein wird. Nicht ein Mal wurde Nadal nach dem Sieg gegen Djokovic von den internationalen Medien zu seinem nächsten Gegner befragt. Dabei steht nun eine bemerkenswerte Rochade an der Spitze fest.

In jedem Fall wird Zverev zur Nummer zwei der Welt aufsteigen. Sollte Zverev nicht die French Open gewinnen, würde der Russe Daniil Medwedew ganz nach oben rücken. Zum ersten Mal seit 2003 werden also weder Nadal, Djokovic noch Federer unter den Top zwei rangieren. Gewinnt Zverev sogar das Turnier, wäre er der erste Deutsche seit Boris Becker 1991 an der Spitze.

Für einen, der als Schattenspieler zu einem Turnier kam, wäre das mächtig viel Licht.

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