Sein letzter Anruf kam im Januar. Er meldete sich immer an diesem Januartag. Seit Jahren. Geburtstagswünsche übermittelnd. Seine Stimme am Telefon: schleppend. Es musste ihm nicht gut gehen. Er verlor gleichwohl kaum Worte über seine Krankheit. Zuletzt Ende August berichtete eine gemeinsame Bekannte, es gehe ihm weiter schlecht. Mit dem Schlimmsten war zu rechnen. Besorgte Freunde, sofern sie vor dem Fernseher saßen in Vorfreude auf den Auftritt der Oftersheimer Weitspringerin Malaika Mihambo am letzten Tag der Leichtathletik-WM, erreichte die Nachricht vom Tod Sonntagnachmittag via ZDF. Martin Lauer, begann der Moderator die Sportsendung, der ehemalige Hürden-Weltrekordler und Staffel-Olympiasieger, ist im Alter von 82 Jahren gestorben.
Es mag schicksalhafte Fügung gewesen sein, dass Lauer während des Hochfests seines Sports aus dem Leben schied. Versichern ältere Semester doch heute noch, zumindest die deutsche Leichtathletik habe nie einen höher Begabten erleben dürfen. Martin Lauer war ein Alleskönner: Er lief, er sprang, er schrieb, er sang, er arbeitete auf außergewöhnlichem Niveau.
Und war doch ein Unvollendeter.
Nur fünf Sommer lang, von 1956 bis 1960, rauschte er wie ein Außerirdischer durch die Reihen des Sports, ehe ihn, den gerade mal 23-Jährigen, das Missgeschick eines Mediziners jäh aus der Bahn warf.
Gerade der Jugendklasse entwachsen, war Martin Lauer 1956 bereits deutscher Zehnkampfrekordler und bei den Olympischen Spielen im selben Jahr in Melbourne viertbester Hürdensprinter und die Nummer fünf unter den "Königen der Leichtathletik", den Zehnkämpfern. Zwei Jahre drauf dann Europameister über 110 Meter Hürden, und 1959 schließlich nahe am Zehnkampf-Weltrekord mit den 7955 Punkten nach damaliger Wertung, außerdem der global Schnellste über die kurze Hürdendistanz in handgestoppten 13,2 Sekunden. Beide Höchstleistungen indes: nur die Andeutung dessen, was möglich gewesen wäre für den talentierten Kerl aus Kalk bei Köln. Viele Jahre nach seinem Olympiasieg 1964 im Zehnkampf überlegte Willi Holdorf aus Schleswig-Holstein: "Ich hätte wohl nicht gewonnen, wenn der Martin hätte starten können. Der wäre schon nach neun Übungen Sieger gewesen." Den erst 1973 unterbotenen Hürden-Weltrekord markierte der Maschinenbau-Student jedenfalls nach Vorlesungen am Vormittag an der TU München, dem Flug mittags nach Zürich und einer Segelpartie am frühen Nachmittag auf dem Zürichsee. Heutzutage wissen Athleten, wie mit einer solchen Wettkampfvorbereitung zu verfahren ist: als Zumutung entrüstet ablehnen. Mit seinem furiosen Auftritt bei den Schweizern hob der Deutsche im Übrigen das populärste Meeting der Weltleichtathletik im Letzigrund aus der Taufe.
Im Winter drauf nahm das Unheil seinen Lauf. Im Sprunggelenk des Weltleichtathleten sowie deutschen Sportlers des Jahres 1959 hatte sich die Knochenhaut entzündet. Von gewaltigen Schmerzen im Schwungbein geplagt, quälte sich Lauer nach Rom zu den Spielen 1960. Das erträumte Hürden-Gold musste er den Amerikanern überlassen (er wurde Vierter wie vier Jahre zuvor), nicht jedoch den Sieg in der 4x100-Meter-Staffel. Nach Querelen über die Zusammensetzung des Quartetts entschädigten sich die deutschen Sprinter mit einem Weltrekord, 39,5 Sekunden. Der meinungs- und durchsetzungsstarke Lauer war dabei Herr des Verfahrens. Die Besetzungsprobleme hatten nicht Trainer und Funktionäre gelöst, der angeschlagene Kölner hatte das letzte Wort.
Im späten Herbst nach Rom versuchte der Kölner Vereinsarzt Lauers Verletzung mit einer Spritzenkur in den Griff zu bekommen. Ende Mai 1961 stand nur noch eine Injektion auf dem Plan, Lauer trainierte bereits wieder. Es sah gut aus. Doch dann passierte es: Ein Münchner Arzt behandelte ihn mit einer nicht sterilen Spritze. Blutvergiftung, Amputationsgefahr, Ringkampf mit dem Tod, dem der Sportler nur dank eiserner Natur und unbändigem Überlebenswillen entging.
Schwer gezeichnet zog sich Lauer mit 24 Jahren vom Sport zurück. Ein herber Verlust für die deutschen Leichtathleten.
Nach jahrelanger Arbeit an der Aufarbeitung seines Lebenswerkes präsentierte Martin Lauer 2017 einen aufwendig gestalteten, in kleiner Zahl aufgelegten und durchnummerierten Band: "Meine zwei Leben - gewidmet meiner Lauer-Sippe." Und ein paar Freunden. Die bestaunten die Talente, die der Alleskönner jenseits des Sports offenbarte. Seine horrenden Krankenhauskosten tilgte er als Country-Sänger, mit chartreifen Singles wie "Sacramento", "Taxi nach Texas" oder "Am Lagerfeuer" schaffte er eine Auflage von drei Millionen. Auch auf beruflicher Ebene ging zu Beginn des Computerzeitalters hierzulande der Weg des Spezialisten Lauer im Sprinttempo nach oben. Zuvor hatte er sich als Journalist mit spitzer Feder einen Spitzenplatz unter den Kritikern des häufig verlogenen Spitzensports erfochten.
Beim Ausflug ins Journalistenlager kam der Widerspruchsgeist des ehemaligen Athleten noch einmal zum Vorschein. Rebellisch und ganz mündiger Athlet zog er gegen ungerechte Sportfunktionäre und deren Heuchelei um den Amateurparagrafen zu Felde. Legendär war die Geschichte mit dem Ventilator: Den hatte er im heißen Quartier bei den römischen Spielen 1960 aus dem Raum "der Bonzen" aus der Verbandsführung entwendet und im Athletenzimmer deponiert. In "Meine zwei Leben" erklärte Lauer lakonisch: "Wenn wer Kühlung nötig hatte, dann wir."
Im Sommer 2016, Lauer wähnte das Ende nicht mehr weit (überstand das Tief dank eines neuen Medikaments aber noch einmal), lud er die Goldstaffel von Rom zu einem letzten Zusammensein zu sich nach Lauf in Mittelfranken. Der Startläufer Bernd Cullmann, Jüngster des Quartetts, 100-Meter-Olympiasieger Armin Hary, Walter Mahlendorf aus der zweiten Kurve und noch zwei, drei Freunde eilten herbei. Und schwelgten in Erinnerungen.
In der großen Pfanne über dem offenen Feuer im Garten schmorte die Paella. Martin liebte Paella.