Zum Tod von Jack Charlton:Knöcherner Held der Arbeiterklasse

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Jack (links) und Bobby Charlton im Jahr 1965 während des Trainings der Nationalmannschaft (Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Der Engländer Jack Charlton gewann mit seinem Bruder Bobby 1966 die WM, verstand sich aber nicht immer gut mit diesem. Nun ist er nach schwerer Krankheit gestorben.

Ein Nachruf von Javier Cáceres

Es gab im Leben des Jack Charlton Stunden, in denen er ernsthaft fürchten musste, seinen jüngeren Bruder Bobby betrauern zu müssen. Er erzählte davon in einem Interview, das man im Internet abrufen kann, und es ist dazu angetan, die Körperbehaarung aufzurichten. Jack Charlton erzählt nämlich, wie er im Februar 1958 in der Kabine von Leeds United von der Nachricht erfährt, dass der Charterflieger mit der Mannschaft von Manchester United in München abgestürzt war, und noch niemand wusste, wie viele der "Busby Babes", von den nach Trainer Matt Busby benannten Wunderkindern Uniteds, den Tod gefunden hatten. Ob Jacks Bruder Bobby dabei war, "our Kid", wie er ihn nannte. Anderntags, so erzählte es Charlton, sei er mit seiner Ehefrau Pat in den Zug ein- und in Newcastle ausgestiegen, und aus weiter Entfernung sah er am Kiosk eine Schlagzeile, die besagte, dass Bobby unter den Überlebenden des Munich Air Desaster war.

"Und wir tanzten", sagt Charlton.

Sein Bruder, schrieb Jack Charlton Jahrzehnte später in seiner Autobiografie, sollte nach dem Absturz, der 23 Todesopfer zur Folge hatte, nie wieder derselbe sein. Es sei, als habe er durch den Tod von acht Kameraden das Lächeln verloren. Später waren nicht wenige der Ansicht, das Schicksal habe die Unterschiede zwischen den Brüdern nur noch intensiver akzentuieren wollen. Bobby, das war der offensive, beidfüßige, aber auch der introvertierte von insgesamt vier Brüdern; Jack hingegen der brachiale und doch knöcherne Innenverteidiger "im Rahmen einer Giraffe", wie es am Sonntag in englischen Zeitungen hieß. "Wenn ich von einem Verteidiger höre, dass er gut mit dem Ball umgehen könne, denke ich: bei Gott!", sagte Jack Charlton einmal; er verriet damit alles über die Fußballkultur, in der er groß geworden war.

Zum Tod von Norman Hunter
:Der Beinbeißer

Der englische Verteidiger Norman Hunter, Weltmeister von 1966, war berüchtigt für seine Härte - und hätte 1975 mit Leeds den Landesmeister-Titel gegen den FC Bayern verdient gehabt. Nun ist er an den Folgen einer Corona-Erkrankung gestorben.

Nachruf von Javier Cáceres

Die Charltons wurde in eine Minenarbeiterfamilie geboren, in Ashington, Northumberland, und hätte Jack nicht der Fußball zum Profi gemacht, der für Leeds United 773 Spiele bestritt, wäre wohl auch er in eine Grube gestiegen. Als 15-Jähriger war er probeweise unter Tage und empfand es als das, was es ist: ein Inferno. Er brachte von dort einen unvergänglichen Respekt vor und die Solidarität mit den Kumpeln mit. Als sie in den Achtzigerjahren die Wirtschaftsradikalität der Thatcher-Regierung mit einem Streik beantworteten, stand er, der wegen seines Fußballs als working class hero galt, den Bergmännern zur Seite.

Dieser Respekt, er war einmal landesweit gewesen. Als bei der WM 1966 die Runde machte, dass Vater Charlton die Liveübertragung von Englands Halbfinalsieg gegen Portugal (2:1) verpasst hatte, weil er die Kumpel in der Schicht nicht im Stich lassen wollte, wiederholte die BBC die Ausstrahlung. Beim folgenden, legendären WM-Finale gegen West Germany in Wembley war der Vater am Ort. Und so sah er nicht nur, wie Bobby und Jack nach den Deutschen Fritz und Ottmar Walter (1954) durch den 4:2-Sieg zum zweiten und bislang letzten Bruderpaar der Geschichte wurden, das einen WM-Pokal in die Höhe stemmen durfte. Sondern auch, wie Jack nach Schlusspfiff auf die Knie sank und sein Gesicht in die Hände bettete.

Erst ein Jahr zuvor, 1965, hatte Nationaltrainer Alf Ramsey den fast 30-Jährigen erstmals ins Nationalteam berufen. "Du weißt, ich hole nicht immer die Besten", sagte Ramsey zu Charlton. Doch Ramsey ließ ihn 1966 nicht nur alle WM-Spiele bestreiten, sondern nahm ihn 1970 auch zur WM nach Mexiko mit, dem Ort seines 35. und letzten Länderspiels - gegen Deutschland; 2:3 nach Verlängerung.

Trainer und Biertrinker des Jahres

Nach dem Ende seiner mit einem Meistertitel, einem FA-Cup-Gewinn und einem Mersey-Pokalsieg gespickten Karriere wurde Jack Charlton 1973 sofort Trainer beim FC Middlesbrough. Er führte "Bro" in die erste Liga und erntete eine beispiellose Ehre: Er wurde als Coach eines Zweitligisten zum Trainer des Jahres gewählt. Fast war er so stolz darauf wie auf seine Wahl zum Biertrinker des Jahres 1995 durch Abgeordnete des House of Commons. Das Biertrinken verbot er auch seinen Mannschaften nicht, denn "das ist immer noch besser als diese verdammte Coca-Cola".

Eine Legende hingegen bestritt er: dass er in den Pubs mit Schecks bezahlte, weil er angeblich davon ausging, dass die Wirte die Coupons mit dem Charlton-Autogramm nicht bei der Bank einlösen, sondern lieber rahmen und an der Wand aufhängen würden. Als Souvenir an einen Großen, der später auch Sheffield Wednesday und Newcastle United trainierte.

Das Engagement in Newcastle, dem Lieblingsklub seiner Kindheit, ließ ein wenig von der Bitterkeit verschwinden, die ihn in Beschlag nahm, nachdem er sich um das Amt des Nationaltrainers beworben und von Englands Verband nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch geladen worden war. Charlton wurde stattdessen irischer Nationaltrainer - und drehte den dortigen Fußball auf rechts. Er führte die Iren zur EM 1988 - und siegte im ersten Spiel in Stuttgart sensationell gegen England mit 1:0, eine süße Rache. Zwei Jahre danach lenkte er die Iren bis ins Viertelfinale der WM in Italien, und noch ehe er weitere vier Jahre später die Iren zur WM in den USA führte, waren ihm die größten Weihen zuteil geworden. "The Pogues" und "The Dubliners" nahmen das Folkpunk-Lied "Jack's Heroes" auf, und auch der große Johan Cruyff adelte den passionierten Angler: "Er lässt alle glauben, dass ihn Fußball nicht interessiert, weil er allen erzählt, dass er fischen geht. Aber wir wissen, woran er denkt, wenn er fischt: Fußball." 1996 wurde Charlton zum Iren, ehrenhalber.

Jahre später schrieb Jack Charlton seine Autobiografie, sie führte zu einem großen Zerwürfnis mit Bobby. Jack hielt dem Bruder vor, Mutter Cissie in den Monaten vor ihrem Tod 1996 nicht aufgesucht zu haben. Ausgerechnet sie, die so wichtig war für ihre Karriere: Als Tochter, Schwester und Cousine (von Newcastlers Legende Jackie Milburn) lokaler Fußballhelden hatte sie ihren Söhnen die Liebe zum Spiel in die Wiege gelegt - und sie sogar trainiert. 2008 gab es eine Versöhnung, bei einer BBC-Gala, als Jack Charlton auf der Bühne sagte, nie einen besseren Fußballer gesehen zu haben als Bobby Charlton, 82, um den es auch jetzt, an diesem Sonntag, noch sehr still war. Bedrückend still, denn er galt zuletzt als gebrechlich.

Da waren schon zwei Tage seit der Nachricht vom Tode Jacks vergangen. Er war am Freitag mit 85 Jahren im Kreis seiner Familie gestorben. Im vergangenen Jahr war eine Krebserkrankung diagnostiziert worden; noch länger litt er an Gedächtnisschwund, vor dem, wie nicht nur an ihm zu erkennen war, nicht einmal jene gefeit sind, die unvergessen sind, und die es bleiben werden.

© SZ vom 13.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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