Zum Tod der Box-Legende:Muhammad Ali, der Große

Boxing legend Muhammad Ali dies at age of 74

Muhammad Ali im Dezember 2005.

(Foto: dpa)

Bei ihm ging es niemals nur ums Boxen, sondern auch um die Gesellschaft, um Politik, um Religion. Eigentlich ging es bei ihm immer um alles.

Nachruf von Jürgen Schmieder

Das Gilgameš-Epos gilt als die erste niedergeschriebene Heldensage in der Geschichte der Menschheit, das Werk aus dem babylonischen Raum hat gar zwei Titel. Einer lautet: "Derjenige, der in die Tiefe sah". Die ältere Fassung trägt den Namen: "Derjenige, der alle anderen Könige übertraf." Der Held Gilgameš verfügt über außergewöhnliche physische Kräfte, er ist furchtlos, allerdings auch schrecklich ungehobelt.

Er begibt sich auf Wanderschaft, überlistet mit seinen rhetorischen Fähigkeiten hässliche Unwesen und überlebt eine Sintflut. Am Ende kehrt er nach Hause zurück, weil er eingesehen hat, dass er nur dann unsterblich sein kann, wenn er ohne großes Aufhebens große Werke vollbringt.

Es scheint, als wäre den Babyloniern mit diesen Fragmenten in sumerischer Sprache bereits im zweiten Jahrtausend vor Christus eine Vorschau auf das Leben von Muhammad Ali gelungen, diesen außergewöhnlichen, furchtlosen und ungehobelten Boxer.

Muhammad Ali gilt heute als einer der komplettesten Athleten, die jemals gelebt haben. Es lohnt sich, sämtliche Profikämpfe in voller Länge zu betrachten, weil dann zu sehen ist, was für ein Boxer dieser Muhammad Ali tatsächlich war. Was die meisten kennen, die sich nur die wichtigsten Momente der wichtigsten Kämpfe ansehen, das sind die leichtfüßigen Bewegungen Alis, das enorme Tempo, die präzisen und wuchtigen Schläge am Ende einer Runde, Clownerien wie der "Ali Shuffle" und das Kinn, das er seinen Gegnern entgegenstreckte, wenn er sie provozieren wollte. Dazu markige Sprüche und kreative Beleidigungen vor, nach und auch während der Kämpfe.

Er wollte nicht nur gewinnen, er wollte zerstören

Wer sämtliche Gefechte von Muhammad Ali betrachtet, der wird nicht umhin kommen, die Gnadenlosigkeit dieses Mannes zu bemerken. Die Gnadenlosigkeit gegenüber seinen Gegnern, die sein Trainer Angelo Dundee so beschrieben hat: "Er hat es genossen, seinen Kontrahenten weh zu tun - sowohl physisch als auch psychisch." Er habe nicht nur gewinnen, sondern den anderen Mann im Ring zerstören wollen. Er war aber auch gnadenlos gegenüber sich selbst. Er ließ sich vermöbeln, ließ seinen Gegner auf ihn eindreschen und schüttelte nur den Kopf, um den anderen zu weiteren Prügeleien einzuladen. Wenn der Gegner müde war, dann fing Ali erst an.

In diesen Momenten zeigt sich, wie erbarmungslos Ali im Training mit seinem Körper umgegangen sein muss, um eine derartige Physis aufzubauen und das Selbstverständnis, am Ende eines Duells noch kräftig zuschlagen zu können. Um 5.30 Uhr stand er gewöhnlich auf und dehnte die Muskeln, dann lief er in Armeestiefeln neun Kilometer weit und achtete darauf, niemals länger zu brauchen als 40 Minuten. Danach trainierte er drei Stunden lang, sechs Mal in der Woche. Ein Mal sagte Muhammad Ali: "Ich habe jede Minute meines Trainings gehasst, aber ich habe mir immer eingeredet, niemals aufzuhören. Leide jetzt und lebe den Rest Deines Lebens als Champion."

Er wurde nicht als Champion geboren. Er war einer, der aus der Stille kam und die Welt davon überzeugen musste, dass er der Beste ist. Die Legende besagt, dass Cassius Marcellus Clay durch ein gestohlenes Fahrrad zum Boxen kam. Irgendjemand hatte vor der Columbia-Halle in seiner Heimatstadt Louisville sein rotes Fahrrad geklaut. Der Zwölfjährige wollte dem Dieb damals "den Arsch versohlen". Im Keller traf der Sohn eines Plakatmalers und Enkel eines Sklaven den Polizisten Joe Martin, der dort Boxer trainierte. Martin riet dem Bengel, er solle erst kämpfen lernen, bevor er jemanden herausfordere.

Bei Ali ging es immer um alles

Ali lernte kämpfen, er gewann als Amateur zwei Mal das Golden-Glove-Turnier, bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom sicherte er sich die Goldmedaille. Danach zog er nach Miami, um sich von Dundee zum Profiboxer ausbilden zu lassen - und zur prägenden Figuren seiner Zeit zu werden.

Es ging ja bei Muhammad Ali nie nur ums Boxen. Seine sportlichen Leistungen allein sind nicht der Grund für die Bewunderung, die ihm auch heute noch entgegengebracht wird und dass sich niemand traut, den selbst verliehenen Spitznamen "The Greatest" infrage zu stellen oder gar lächerlich zu finden. Es ging niemals nur darum, einen Kampf zu gewinnen oder sich einen Weltmeistergürtel umzulegen, es ging um viel mehr: um die Gesellschaft, um Politik, um Religion. Eigentlich ging es bei Muhammad Ali immer um alles.

FILE PHOTO:  Muhammad Ali Turns 70

Muhammad Ali: laut und gut.

(Foto: Len Trievnor/ Getty Images/Hulton Archive)

Er wurde zu einer überlebensgroßen Figur, weil er die Fähigkeit besaß, jeden seiner Auftritte zu einer Heldensage zu verklären. Vor seinem ersten WM-Kampf gegen Sonny Liston im Februar 1964 nannte er seinen Gegner einen "Bären, der so hässlich ist, dass beim Weinen die Tränen über den Hinterkopf rinnen". Außerdem kündigte er an, wie ein Schmetterling schweben und wie eine Biene stechen zu wollen. Und dass er Liston in die Erdumlaufbahn befördern werde. Ali beleidigte nicht nur, er machte aus der Demütigung eine Kunstform. Man muss dieses Gedicht auf Sonny Liston einmal gehört oder gelesen haben, um die Kreativität anerkennen zu können.

Es geht so: "Clay comes out to meet Liston and Liston starts to retreat, If Liston goes back an inch farther he'll end up in a ringside seat. Clay swings with a left, Clay swings with a right, Just look at young Cassius carry the fight. Liston keeps backing but there's not enough room, It's a matter of time until Clay lowers the boom. Then Clay lands with a right, what a beautiful swing, And the punch raised the bear clear out of the ring. Liston still rising and the ref wears a frown, But he can't start counting until Sonny comes down. Now Liston disappears from view, the crowd is getting frantic but our radar stations have picked him up somewhere over the Atlantic. Who on Earth thought, when they came to the fight, That they would witness the launching of a human satellite. Hence the crowd did not dream, when they laid down their money, That they would see a total eclipse of Sonny."

Ali war ein Schaumschläger, ein Lautsprecher und Müllredner in einem Sport, in dem seit jeher Schaum geschlagen und laut gesprochen und Müll geredet wird, da war er der Größte. Beim Reden, aber auch beim Boxen. Viele Menschen wünschten Ali, dass ihm jemand seine große Fresse polieren würde, doch das passierte lange Zeit nicht. Ali gewann gegen Liston in der siebten Runde und verkündete erst: "I am the Greatest!" Dann erklärte er, dass er die Welt erschüttert habe - und gab einen Tag später bekannt, dass er seinen Sklavennamen abgelegt habe und künftig "Cassius X" genannt werden wolle. Eine Woche später verkündete er, zum Islam konvertiert zu sein und nun Muhammad Ali zu heißen.

Drei Jahre später leistete Ali seinen Beitrag zum Vietnam-Krieg - indem er den Wehrdienst verweigerte mit der Begründung, dass ihn kein Vietcong jemals "Nigger" genannt habe. Daraufhin wurde ihm die Boxlizenz entzogen, ein Gericht verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft. Das Berufungsverfahren - Ali verbrachte keinen einzigen Tag im Gefängnis - stilisierte Ali zu einem Kampf zwischen Gut und Böse, und es passte, dass er seinen ersten Kampf danach gegen Joe Frazier absolvierte, den Ali als angepassten Kriegsbefürworter ausgemacht hatte und "Onkel Tom" schimpfte.

Frazier revanchierte sich, indem er Ali stets bei seinem früheren Namen "Cassius Clay" nannte. Frazier war die Antithese zu Ali - und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Frazier aus Ali tatsächlich den Größten gemacht hat. Frazier war derart groß, dass Ali an ihm wachsen und noch größer werden konnte. Ali musste seine eigenen Grenzen verschieben, um Frazier zu besiegen - deshalb waren die Kämpfe (den ersten gewann Frazier, die anderen beiden Ali) derart legendär.

Er war der Größte

Beim dritten Kampf kam es zu einem der emotionalsten Augenblicke in der Geschichte des Sports: 14 Runden lang hatten sich Ali und Frazier in Manila gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Als der Gong ertönte, torkelte Ali in seine Ecke, Frazier musste gar vom Ringrichter geführt werden. Ali forderte seinen Assistenten Angelo Dundee auf, ihm die Handschuhe abzuschneiden - er könne nicht weiterkämpfen.

Zum Tod der Box-Legende: Ewige Rivalen: Muhammad Ali (re.) und Joe Frazier.

Ewige Rivalen: Muhammad Ali (re.) und Joe Frazier.

(Foto: AP)

Gleichzeitig redete Fraziers Trainer Eddie Futch auf seinen Kämpfer ein, er solle aufgeben, weil der nächste harte Treffer durchaus tödliche Folgen für Frazier haben könne. "No, boss", stammelte der in den letzten Runden mit zugeschwollenen Augen nahezu blind kämpfende Frazier immer wieder, während das Blut aus seinem Mund tropfte, "no, no, no!" Doch Futch beendete den Thriller in Manila.

Als Ali aufstehen wollte, um sich vom Publikum feiern zu lassen, brach er ohmächtig zusammen. "Ich war dem Tod noch nie so nahe", sagte er später.

Es ist wahrscheinlich, dass dieser Kampf schuld ist an der Parkinson-Krankheit, die bei den wenigen öffentlichen Auftritten in den vergangenen Jahren immer stärker zu sehen war. Freilich hat Ali in seiner Karriere nach eigenen Zählungen mehr als 29 000 Schläge einstecken müssen, doch die Prügel, die er von Frazier bezogen hatte, die waren enorm.

Muhammad Ali war ein Schaumschläger, doch sein Ego war nicht größer als seine Fähigkeiten. Und doch: Zu den wenigen Hobbys, die er in den vergangenen Jahren in seinem Haus in Scottsdale in Arizona noch hatte, gehörte es, sich durch das Studium seiner Kämpfe immer wieder zu versichern, dass er tatsächlich der Größte war. In Heldensagen - und das Leben von Muhammad Ali gehört dazu - erschüttert der Protagonist die Welt, er kämpft laut und forsch, er muss erst Frieden mit sich selbst und seiner Umgebung schließen, ehe er zurückkehren kann in die Stille.

Wer mit sich selbst im Reinen ist, der muss nicht mehr laut sein. Ali war lange Zeit laut, er konnte Stille nicht ertragen, wohl auch deshalb, weil er mit sich und mit der Welt noch etwas zu klären hatte.

In den vergangenen Jahren ist er still geworden, dieser Muhammad Ali, sehr still. Er entzündete 1996 wortlos das Olympische Feuer, beim All-Star-Spiel der Baseballliga im Jahr 2004 warf er den ersten Pitch, ohne ein Wort zu sagen. Zur Beerdigung seines Kontrahenten Joe Frazier im November 2011 erschien er und applaudierte kurz. Aber er sagte nichts. Er musste auch nichts mehr sagen. Nun, am 3. Juni 2016, ist er im Alter von 74 Jahren gestorben.

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