Zehnkampf:Auf dem Königs­weg

Mit 21 Jahren wird der Mainzer Niklas Kaul jüngster Weltmeister im Zehnkampf und könnte im nächsten Jahrzehnt eine Ära prägen.

Von Saskia Aleythe

Die Wege von Zehnkämpfern kreuzen sich immer wieder, manchmal sogar über die Dauer einer Sportlerkarriere hinaus. Ashton Eaton saß im Presseraum des Khalifa-Stadions in Doha, dritte Reihe, zwei Uhr nachts, die Zeit nahm sich der zweimalige Olympiasieger: um Niklas Kaul noch reden zu hören und ihm zu gratulieren. Eaton und Kaul waren sich 2016 in einem Trainingscamp begegnet, wenige Monate bevor der Amerikaner seine Karriere beendete. Und Kaul war aufmerksam, er schrieb vor ein paar Wochen, noch vor dieser WM in Doha, für das Online-Magazin Spikes folgende Sätze: "Im Alter von nur 18 Jahren war es ein Fenster in die Welt, wie ein wahrer Champion funktioniert." Nun ist Niklas Kaul selbst einer.

"Weltmeister wird man nur einmal im Leben", hat Niklas Kaul am Freitag gesagt, einen Tag nach seinem großen Erfolg: 8691 Punkte, das war eine neue persönliche Bestleistung zum genau richtigen Zeitpunkt. In seinem Alter hat noch nie ein Zehnkämpfer WM-Gold gewonnen, mit 21 Jahren und 234 Tagen ist er der jüngste Weltmeister in der Geschichte seiner Disziplin. Und dann musste man sich die Frage stellen, wie das zusammenpasst, dass einer jetzt sein ganz großes Glück begreift; dass einer sagt: "Was jetzt noch kommt, ist Bonus" - und trotzdem die größeren Ziele im Kopf hat: Die Olympischen Spiele in Paris 2024, in Los Angeles 2028.

Den goldenen Mittelweg zu finden, das ist die große Kunst des Zehnkampfs. Bestleistungen zu schaffen, aber immer noch genügend Kraft zu bewahren für anstehende Aufgaben. Wie sehr Kaul das verinnerlicht hat, wird auch an seinem Lebensweg deutlich. Der befindet sich zwischen Hörsaal und Trainingsplatz, an der Uni Mainz studiert er auf Lehramt Sport und Physik, nur drei Minuten Fußweg trennen ihn dort von Vorlesungen und seinem Sport. Beim Universitäts-Sportclub Mainz trainiert Kaul schon seit er zehn Jahre alt ist, "ich kenne eigentlich jeden, der da auf dem Platz steht". Trainiert wird er hauptsächlich von seinen Eltern, jeden Tag zwei bis drei Stunden nach ihren Lehrer-Jobs. Stefanie und Sebastian Kaul waren selbst Läufer, die bei internationalen Wettkämpfen gestartet sind; für sie ist es vor allem wichtig, eine möglichst lang andauernde Karriere nicht frühen Träumen zu opfern. Sie hatten viel an den Grundlagen gearbeitet, sagte Niklas Kaul, das Krafttraining noch nicht in die Maximalbereiche getrieben. Wer es übertreibt, geht nachhaltig Risiken ein, so zehrend ist der Zehnkampf. Das oberste Ziel war nie die schnelle Medaille, sondern "dass ich verletzungsfrei bleibe". Dass er jetzt, quasi noch im Sicherheitsmodus, schon den Titel erobert hat, offenbart erst recht sein Potenzial.

17th IAAF World Athletics Championships Doha 2019 - Day Seven

Niklas Kaul, der neue König der Leichtathleten, thront am Ende inmitten seiner niedergeschlagenen Gegner.

(Foto: Tim Bradbury/Getty Images)

Als Kind habe er davon geträumt, die Nationalhymne einmal zu hören, sagte Kaul, damals wusste er noch nicht, ob als Zehnkämpfer oder als Handballer. Erst mit 15 Jahren konzentrierte er sich auf die Leichtathletik. Dass es in Doha nun tatsächlich mit der Hymne klappen sollte, hatte sich am Donnerstagabend immer mehr angedeutet. Tag eins hatte Kaul auf Rang elf abgeschlossen, doch er wusste ja: Die Disziplinen am zweiten Tag liegen ihm. Der Kanadier Damian Warner, Olympia-Dritter von Rio, patzte beim Diskus; Weltrekordhalter Kevin Mayer aus Frankreich musste mit Schmerzen an der Achillessehne im Stabhochsprung aufgeben - so öffnete sich für Kaul das Fenster zum Titel. Sein zweiter Versuch im Speerwurf landete bei 79,05 Meter, so weit ist noch kein WM-Zehnkämpfer gekommen. "Ab dem Moment war ich befreit", sagte Kaul. Da lag er schon auf dem Bronzerang, es folgte das finale Rennen über 1500 Meter, das er anging wie seine ganze Karriere: behutsam.

"Relativ viele laufen sehr schnell an, werden dann langsamer und am Ende noch mal schneller. Ich laufe viel lieber gleichmäßig", sagte Kaul. Je gleichmäßiger der Lauf, wie ein langes Crescendo, desto später schießt das Laktat in die Beine und damit auch die Ermüdung, erklärte Zehnkampf-Bundestrainer Christopher Hallmann. Kaul kam von hinten, zog allmählich an allen vorbei und war dann mit weitem Vorsprung als Erster im Ziel, nach 4:15,70 Minuten.

Ermattet lagen sie schließlich auf der Tartanbahn. Kaul richtete sich auf und berührte immer wieder mit der Hand die Stirn, schüttelte den Kopf. Er hat im Nachwuchs alles gewonnen, U18- und U20-WM; U20- und U23-EM. Aber seinen ersten Zehnkampf bei der WM der Erwachsenen gleich mit Gold abzuschließen, damit konnte er dann doch nicht rechnen. "Es wird noch ein, zwei Tage brauchen, um das zu realisieren", sagte er. Damian Warner (8529 Punkte), der hinter dem Esten Maicel Uibo (8604) Bronze holte, verwies auf die Vielseitigkeit des Deutschen: "Sagen Sie mir, wie viele Athleten in der Welt fast 80 Meter weit kommen mit dem Speer und 4:15 Minuten über 1500 Meter laufen können. Ich kenne nur einen." Sollte heißen: Kaul vereint selbst das, was kaum vereinbar erscheint.

Zehnkampf: Der Wendepunkt: Auch dank seines herausragenden Speerwurfs ist Kaul nun Weltmeister.

Der Wendepunkt: Auch dank seines herausragenden Speerwurfs ist Kaul nun Weltmeister.

(Foto: Antonin Thuillier/AFP)

Erst um vier Uhr morgens waren Kaul und seine Kollegen Tim Nowak (10. Platz) und Kai Kazmirek (17.) wieder im Hotel, "wir haben uns ein Bier gegönnt und im Swimmingpool den Sonnenaufgang angeschaut", erzählte der Weltmeister. Kazmirek hatte 2017 in London hinter Rico Freimuth Bronze gewonnen, 2018 holte Arthur Abele EM-Gold. Es waren die jüngsten Erfolge in der deutschen Zehnkampf-Geschichte, "es macht Spaß, einen Teil davon weiterzuschreiben", fand Kaul.

Vor ihm hatte nur ein Deutscher den WM-Titel im Zehnkampf gefeiert, der DDR-Athlet Torsten Voss 1987 in Rom. Dass Kaul nun unerwartet eine Goldmedaille auf seine Seite zog, bestätigte wieder einmal, dass es sich lohnt, einen Athleten seinen Königsweg finden zu lassen, jenseits der großen Leistungszentren. Kaul ist trotz einiger Anfragen seinem Verein immer treu geblieben, ähnlich wie Malaika Mihambo übrigens, die am Wochenende im Weitsprung um Gold kämpft.

Ob er im Hinblick auf Olympia 2020 in Tokio noch etwas ändern wolle, wurde Kaul gefragt. Nein, "das wäre der größte Fehler", es funktioniere ja alles. Auch dass er das Studium nun erst einmal hinten anstelle, sei nicht zu erwarten, "im Sport kann es von heute auf morgen vorbei sein". Seiner Demut, der blieb er auch im Moment seines größten Erfolgs treu.

Alles aufsaugen und genießen wolle er jetzt erst mal, dabei half dann auch Ashton Eaton. Der sagte, nachts um zwei: "Niklas kann eine Ära prägen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: