Süddeutsche Zeitung

Eiskunstläufer Yuzuru Hanyu:Halb Artist, halb Luftgeist

Seine Fans flogen um die Erde, nach seinen Auftritten regnete es Plüschbären: Der zweimalige Olympiasieger Yuzuru Hanyu hat sein Publikum verzaubert - nun hört er mit 27 Jahren auf. Den schwierigsten Sprung will er aber noch schaffen.

Von Barbara Klimke

Wie das Eis zitterte, hat Yuzuru Hanyu nie vergessen. Manchmal hat er dem Publikum davon erzählt, auf seine Weise: tanzend, schwebend und mit Bildern, die er aus Bewegung schuf. Seine WM-Kür 2017 widmete er den Opfern der Erdbebenkatastrophe und des Tsunamis in Japan. Ebenso das Gala-Programm nach dem Olympiasieg bei den Winterspielen in Pyeongchang. Dieses kurze Stück, "Notte Stellata" nach einer Musik von Camille Saint-Saëns, ist eine Elegie auf Kufen. Eine Klage ohne Worte, die jeder auf der Welt versteht.

Hanyu war 16 Jahre alt und mitten im Training in der Eishalle in Sendai, als am 11. März 2011 die Erde bebte, er spürte, wie sich der Boden nach oben wölbte, und rannte mit Schlittschuhen an den Füßen ins Freie. Seine Familie kam kurzzeitig in einem Notlager unter, das Elternhaus war unbewohnbar geworden, das Eisstadion wie viele andere Gebäude schwer beschädigt und zerstört. So viele Menschen, erzählte er später, hätten ihnen damals geholfen, als niemand wusste, wie es weitergehen sollte, als auch seine eigene Laufbahn in den Sternen stand: "Ich wollte deshalb etwas tun für sie - und was ich kann, ist eben eislaufen."

Neunzehn Wertungsweltrekorde

Elf Jahre lang hat Hanyu fortan seinen Sport bestimmt, ehe er nun am Dienstag im Alter von 27 Jahren seine Wettkampfkarriere für beendet erklärte. Er war 2014 der erste Olympiasieger aus Asien im Einzellauf der Männer, der erste auch seit 1952, der seine Goldmedaille vier Jahre später verteidigen konnte, dazu zwei Mal Weltmeister, vier Mal Grand-Prix-Finalsieger. 19 Mal stellte er Punkteweltrekorde auf. Aber keine Zahl kann ausdrücken, was dieser schmale, stille, introvertierte Athlet außerdem erreichte: Er hat die Zuschauer verzaubert, ihre Fantasie berührt.

Wenn die Musik einsetzte, führte er den Beweis, dass dieser Sport, der aus Drill und Disziplin entsteht, in seinen schönsten, schwerelosen Momenten eine Seele haben kann. Dass Kunst, auch wenn es sich dabei um Eiskunstlauf handelt, immer aus einem Geben und Nehmen besteht. Er hat sein Publikum verstanden, und sein Publikum verstand ihn. Hunderttausend bejubelten ihn nach dem zweiten Olympiasieg auf den Straßen seiner Heimatstadt Sendai.

Seine Fans, "Fanyus" genannt, malten ihm Bilder und schrieben Gedichte, sie flogen um den halben Erdball, um "Yuzu" live zu sehen, sie zelteten bisweilen vor Arenen, um bei Kassenöffnung vorn in der Schlange zu stehen. Geografisch ist dieser scheue junge Mann nur in Asien ein Rockstar, Eiskunstlauf hat generell viel an Popularität verloren. Aber dort prasselten nach seinen Auftritten gelbe Plüschbären von den Rängen aufs Eis, als habe jemand die Schleusen zum Bärenhimmel aufgemacht; in Pyeongchang trugen manche Zuschauerinnen Haarreifen mit Bärenohren, um auf diese Weise ihre Bewunderung für den Artisten zu bekunden, dessen Maskottchen Pu der Bär (Winnie the Puh) ist. Säckeweise hat er Kuscheltiere an Kinderkrankenhäuser gespendet.

"Er hat eine Aura, eine besondere Präsenz", sagte Midori Ito einmal, die Weltmeisterin von 1989. Sogar der Amerikaner Nathan Chen, der ihm zuletzt drei Mal den WM-Titel und auch den größten Teil der Rekorde abjagte, nannte ihn nach seinem eigenen Olympiasieg im Februar in Peking, wohl nicht nur aus Höflichkeit, den "Größten aller Zeiten". Denn Hanyus schwerelose Kunst - teils Artist, teils Ariel der Luftgeist - war nur die eine Seite. Die andere offenbarte sich in einer Wettkampfhärte und Robustheit, die in spektakulärem Kontrast zu einem zarten, ätherischen Wesen stand. Hanyu, der bald nach dem Erdbeben nach Kanada umzog, um bei dem früheren Weltmeister Brian Orser zu trainieren, hat auch den Vierfach-Rittberger als erster Athlet im Wettkampf gestanden und sich im Duell mit Chen in immer neue Höhen getrieben.

Noch in Peking, bei seinem letzten Wettkampf, als er nach dem Kurzprogramm wegen eines verunglückten Salchows fast aussichtslos zurücklag, hat er auf alles gesetzt und eine Weltneuheit riskiert: den Vierfach-Axel, den einzigen Sprung, bei dem sogar viereinhalb Drehungen um die eigene Achse nötig sind. Der Versuch endete im Sturz und wird nun mit einem Sternchen als unvollendet in der Stilbibel des Eiskunstlaufs verbucht. Die Winterspiele 2022 beschloss Hanyu als Vierter hinter Chen und zwei jungen japanischen Kollegen.

Tage später wurde bekannt, dass er abermals mit einer Knöchelverletzung angetreten war. Schon 2018 waren ihm bei einem Sturz drei Monate vor dem zweiten Olympiasieg die Bänder im Fuß gerissen.

Doch den Vierfach-Axel hat Hanyu noch nicht abgeschrieben. Er will ihn weiterhin zur Vollendung führen - auch nach dem Wettkampfende. Denn sein Leben als Eiskunstläufer, so erklärte er am Dienstag bei der Pressekonferenz in Tokio, sei noch nicht vorbei. Von nun an will er in Shows auftreten, ohne dem Urteil von Juroren zu unterliegen: "Ich möchte, dass die Leute sehen, wie ich weiterkämpfe." Er spürt, dass er den Menschen noch immer viel geben kann. "Ich bin überhaupt nicht traurig", sagte nach einer tiefen Verbeugung zum Abschied, als er ging.

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